Was ist aus Carl von Lindes großen Erfindungen geworden?
Wie ging es mit der "Gesellschaft für Lindes Eismaschinen" weiter? Seine Söhne Friedrich und Richard und sein Schwiegersohn Rudolf Wucherer führten das Unternehmen erfolgreich weiter. Danach seine Enkel Hermann Linde und Johannes Wucherer. 1965 wurde die Firma in "Linde AG." umbenannt. Von 1972 bis 1976 war Hermann Linde Sprecher des Vorstandes. Von da ab war kein Mitglied der Linde-Familie mehr im Management der Firma.
Bild 1. So sah die Linde-Fabrik im Jahr 1909 in Höllriegelskreuth aus. Hier wurden Sauerstoff und Stickstoff mithilfe der Luftverflüssigung und Luftzerlegung hergestellt. Bild 2 Die Zentrale der Linde AG. in München heute. Ein Weltkonzern mit 51000 Mitarbeitern.
Die Linde-Gruppe ist heute ein Weltmarktführer für Industriegase und eine der erfolgreichsten Engineering-Firmen. Hinter dem Bereich "Linde Engineering" verbirgt sich "Verfahrenstechnik und Anlagenbau". Er konstruiert und baut schlüsselfertige verfahrenstechnische Anlagen, für Luftzerlegung, Gasaufbereitung, Petrochemie, LNG, Synthesegas, Wasserstoff, Biotechnologie, Kryotechnik. Mit über 4.000 gebauten Anlagen zählt Linde heute zur Weltspitze. Linde-Produkte und Dienstleistungen finden sich in fast allen Industrien in mehr als 100 Ländern. Eine wahre Erfolgsgeschichte, die mit der Luftverflüssigung 1895 begann. Die Gruppe erzielte 2011 einen Umsatz von 13,8 Milliarden € mit 51 000 Mitarbeitern (6/2012) und machte einen Gewinn von 1,2 Millionen €.
Wie ging es mit Carl von Lindes Kühlaggregaten weiter? Lindes genialen Geist beweist zunächst einmal die Tatsache, dass sein Kühlmaschinen-Prinzip bis heute völlig unverändert geblieben ist, das da heißt: Ein Kompressor erzeugt bei einem Kältemittel ein Temperaturgefälle, das im Verdampfer dem Kühlraum Wärme entzieht und im Verflüssiger durch Wärmeübertrag seinen Aggregatzustand von gasförmig in flüssig verwandelt. Ab den 1920ern war die Zeit reif für den Haushaltskühlschrank, der genau nach dem System Linde arbeitet. Es gab schon vorher Versuche durch Twinning und Carré, ein brauchbares Kühlmöbel zu bauen, die waren alle weder serienreif noch effizient, arbeiteten mit unzulänglichen physikalischen Methoden. Linde benutzte noch das Kältemittel Methyläther, später Ammoniak. Als jedoch Ersatzchemikalien für den Hausgebrauch entwickelt waren, gab es, natürlich in den USA den ersten Kühlschrank, der in den 1930ern dort schon zur Standardausstattung privater Haushalte gehörte. Der erste europäische Kühlschrank wurde 1929 von den Zschopauer Motorenwerken entwickelt. Auch Linde baute in den 1950ern eigene Kühlschränke.
Bild 3. Ein Linde-Kühlschrank aus den 1950ern.
Der erste FCKW-freie (ohne Chlor) Kühlschrank der Welt in neuerer Zeit wurde 1992 durch das sächsische Unternehmen „dkk Scharfenstein“ (später unter dem Namen "Foron" produziert). Angeregt wurde die Entwicklung von Greenpeace und dem Hygiene-Institut Dortmund. Aber die Hersteller von Kühlschränken hatten zu dieser Zeit kein Interesse daran, diese Technik einzuführen. Seit dem Jahr 2000 jedoch, sind Haushalts- und Gewerbekühlgeräte mit brennbaren Kältemitteln mehr und mehr auf dem Markt vertreten. Das sind Isobutan oder Gemische aus Propan und Butan, die weder die Ozonschicht zerstören noch den Treibhauseffekt verstärken, dafür allerdings brennbar sind.
Bild 4. Die heutigen Kältemittel, anders als zu Lindes Zeiten, aber immer noch nach seinem Prinzip: Umlaufend und abwechselnd verflüssigt und verdampft.
Bild 5. Der thermodynamische Zustandsverlauf in einem modernen Kühlschrank, betrieben mit dem Kältemittel R600a, d.h. Isobutan, dargestellt im Druck-Enthalpie-Diagramm. Wie man sieht, hat der Kompressor einen Saugdruck von ca. 2 bar und einen Enddruck von ca. 5 bar.
Natürlich werden heute andere Kältemittel benutzt, natürlich ist Lindes Prinzip für die sog. Industriekälte abgewandelt worden, z.B. durch Einschaltung eines sog. Economizers, eines Zwischenentspanngs-Behälters, der die Drosselung in zwei Stufen aufteilt und dadurch die Kompressorleistung reduziert.
Bild 6. Eine moderne Großkälteanlage mit zwei Verdampfern, dargestellt im Druck-Enthalpie-Diagramm und als Funktionsschema. In diesem Beispiel wird Kälte bei -40°C und -20°C für eine verfahrenstechnische Anlage benötigt.
Oder es gibt in der Industrie den Bedarf, Kälte auf zwei verschiedenen Temperaturstufen herzustellen, z.B. bei einer Verdampfungstemperatur von -40°C und einer zweiten bei -20°C, dies erfordert zwei Verdampfer und einen zweistufigen Kompressor. Natürlich werden heute bei großen Industrie-Kälteanlagen Turboverdichter statt Kolbenverdichter eingesetzt. Das ändert alles nichts an der Tatsache, dass das Kältemaschinenprinzip Lindes jetzt schon 140 Jahre lang Bestand hat.
Wie ging es mit Carl von Lindes Luftverflüssigung weiter? Sie bildete die Grundlage für einen ganzen neuen Industriezweig, die Produktion von Gasen, die wiederum für unzählige Industriezweige, die Medizin und die Forschung unerlässlich sind. Die Luftzerlegungsanlagen der Linde AG sind heute sehr viel komplexer und verwickelter als zu Zeiten seines Erfinders. Die täglich produzierte Sauerstoffmenge beläuft sich auf über 4000 t pro Strang. Die Leistungen der Kompressoren betragen bis zu 30 und 40 MW. Für solche Großanlagen kommen nur noch Turboverdichter in Frage, und zwar für den Hauptverdichter Einwellen-Maschinen mit bis zu fünf Radial-Stufen, d.h. Laufrädern oder bei sehr großen Massenströmen Axialverdichter. Für den Kreislaufverdichter wählt man i.A. Mehrwellen-Maschinen mit integriertem Getriebe mit bis zu fünf Radialstufen. Hinter jeder Stufe befindet sich ein Zwischenkühler und hinter der letzten ein Nachkühler. Es kommen nur Maschinen mit den höchsten derzeit erreichbaren Wirkungsgraden in Frage, da der Rohstoff "Luft" zwar nichts kostet, aber die elektrische Energie zum Antrieb der Kompressoren allein für die laufenden Betriebskosten bestimmend ist.
Bild 7. Das wurde aus Lindes einfacher Luftverflüssigung und Zerlegung: So komplex sieht eine moderne Luftzerlegungsanlage aus dem Jahr 2000 aus. Produziert wird füssiger und gasförmiger Sauerstoff und Stickstoff und flüssiges Argon. Zwei Kompressoren (MAC=main air compressor und BAC= booster air compressor, Kreislaufkompressor), Kühler, Molsiebe, diverse Wärmetauscher, zwei Rektifikationskolonnen, es gibt noch ein Drosselventil, doch zusätzlich übernimmt eine Expansionsturbine die Kälteerzeugung, die wirksamer ist als eine einfache Entspannung. Besonders tief kühlt die Turbine herunter, wenn sie belastet ist, d.h. z.B. eine Pumpe antreibt. Das ist ganz im Sinne Carl von Lindes, dessen Motto lautete: Wie können wir es besser machen?
Bild 8. Eine der größten Linde-Luftzerlegungsanlagen der Welt in Mexico, die mit 5 Strängen 63 000 t/Tag Stickstoff liefert, der zur Erhöhung der Ölförderung unter hohem Druck in ein Ölfeld gepresst wird (gas reinjection), im Vordergrund Wärmetauscher, mit Umgebungsluft mittels Ventilatoren betrieben.
Bild 9. So sieht z.B. ein Maschinensatz innerhalb einer modernen Luftzerlegungsanlage aus: Eine Kondensations-Dampfturbine treibt mit dem einen Wellenende einen einwelligen, 4-stufigen Turbo-Haupt-Luftverdichter, mit dem anderen Wellenende einen mehrwelligen 5-stufigen Turbo-Kreislaufverdichter mit integriertem Getriebe. Der Hauptverdichter hat drei, der Kreislaufverdichter vier Zwischenkühler. Beide Verdichter erzielen durch eine ausgeklügelte Aero-Thermodynamik Spitzenwirkungsgrade. Einer der bekanntesten Hersteller: MAN Diesel & Turbo, bekannt für deutsche Ingenieurskunst im Maschinenbau, einer der Weltmarktführer für diese Maschinenanlagen.
Bild 10. Die Maschinen der LZA im 3D-Bild.
Bild 11. Der Kreislauf-Verdichter einer Luftzerlegungs-Anlage: Ein mehrwelliger Verdichter für Luft mit integriertem Getriebe. Es sind die vier Wellen-Richtungen von vier Verdichterstufen zu sehen. Die Wellen werden angetrieben durch vier Ritzel (Zahnräder mit kleinem Durchmesser), die am Umfang des großen Getriebe-Zahnrades angeordnet sind. Dieses wird von einem Elektromotor meist mit einer Drehzahl von 1500 oder 1800 1/Min angetrieben. Die Ritzelwellen haben sehr viel höhere Drehzahlen. Links ist die erste Stufe zu sehen, die Luft wird axial angesaugt (senkrecht in die Bildebene hinein) und verlässt diese Stufe tangential durch das trompetenförmige Rohrstück (einen sog. Diffusor).
Linde - Mensch, Wissenschaftler, Forscher, Ingenieur, Industriekapitän. Was für ein Leben entfaltet sich da vor unseren Augen? Der fränkische Pfarrerssohn, der nicht den Wunsch seines Vaters erfüllt, auch Pfarrer zu werden, der trotzdem seiner evangelischen Kirche immer treu verbunden war, der nie einen Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Religion erkennen konnte. Der aufmüpfige Student, der vom Polytechnikum fliegt und keine Abschlussprüfung machen darf. Der sich dennoch durchbeißt, in Berlin und München Dampflokomotiven konstruiert. Der immer der Maxime folgt, bei seinen Maschinen das Maximum an Leistung bei einem Minimum an Aufwand herauszuholen. Der als Professor ganz tief in die physikalischen Grundlagen der Wärmekraft- und Kältemaschinen hineinblickt, dort für unmöglich gehaltene Zukunftspotenziale entdeckt. Der sein Heureka ausrufen kann, als er das noch heute gültige Prinzip aller Kältemaschinen erfindet: Verdichte ein Gas, kühle es bis zur Verflüssigung, indem du seine Wärme an die Umgebung überträgst, entspanne die Flüssigkeit und zwinge sie zur Verdampfung, indem du ihr Wärme zuführst und dadurch im Kühlraum Kälte erzeugst; halte diesen immerwährenden Kreislauf in Gang, indem du einen Kompressor über einen Motor mit elektrischem Strom versorgst. Der Forscher und Ingenieur, der damit den unstillbaren Hunger der Menschen nach Kälte befriedigen kann. Kälte, die, direkt aus der Natur kommend, so flüchtig war, nicht festgehalten werden konnte, ganz anders als die Wärme. Die Idee und ihre praktische Umsetzung erwiesen sich als so Erfolg versprechend, dass er seinen Professorenposten aufgab und seine eigene "Gesellschaft für Lindes Eismaschinen" gründete. Er machte alle, die darauf angewiesen waren, unabhängig von Natureis aus Teichen und aus Norwegen und ließ sie milde Winter mit Gelassenheit tragen. Die Firma florierte, er wurde ein wohlhabender Mann.
Bild 12. Turbokaltwassersatz für das Kältemittel R12, Baujahr 1974. Motor rot, Turbokompressor blau, Umfüllbehälter blau, Verflüssiger und Verdampfer gelb. Der Verflüssiger (Rundquerschnitt mit Ein- und Austrittsflansch), wird von "Kühlwasser" aus der Leitung durchströmt. Der Verdampfer (ganz unten) erzeugt das "Kaltwasser". Dieser kompakte Maschinen-Apparatesatz dient zur Klimatisierung großer Büro-Gebäude, Fabriken und Schiffe. Heute wird i.A. das Kältemittel R134a verwendet.
Nach diesem verdichte-verflüssige-entspanne-verdampfe-Prinzip à la Linde laufen heute alle Kältemaschinen (zuallererst freuten sich die bayrischen Bierbrauer darüber): Haushaltskühlschränke, Kühlregale in Supermärkten, Wärmepumpen zur Gebäudeheizung, Industrie-Kälteanlagen, Kfz-Klimaanlagen und die Kaltwassersätze, die als Herz einer Klimaanlage in großen Gebäuden kaltes Wasser erzeugen und damit die Umluft kühlen.
Dann sein zweiter Streich: Die Erfindung der Luftverflüssigung mithilfe einer lange gering geachteten Erscheinung, des Joule-Thomson-Effekts. Druckabsenkung um ein bar senkt die Luft-Temperatur um 1/4 Grad. Wie kann man diesen Effekt verstärken? Linde konnte, und zwar mit Druckerhöhung und ständiger Wiederholung in einem Kreislauf kam er auf minus 195°C, und da war die Luft flüssig. Er brauchte dazu keinen Kälteträger, die Luft machte das allein - mit einem Kompressor, einem Wärmetauscher und einem Drosselventil. Jetzt konnte er sie in ihre Bestandteile zerlegen durch fraktionierte Destillation...und öffnete ein Füllhorn von nützlichen Anwendungen von der Medizin bis zur Raumfahrt und ganz nebenbei bot er Fritz Haber mit dem so gewonnenen Stickstoff die Möglichkeit, mit künstlicher Düngung die Hälfte der Menschheit vor dem Hungertod zu bewahren.
Seine Verdienste waren unübersehbar, als Wissenschaftler, Erfinder, Firmengründer, der wesentlichen Anteil an der Industrialisierung Deutschlands hatte. Der bayrische Prinzregent zeichnete ihn 1897 mit dem Verdienstorden der Bayerischen Krone aus - ob Carl Linde von seinen Mitmenschen jetzt verlangte, ihn mit dem ihm zustehenden Titel "Carl Ritter von Linde" anzureden, ist nicht überliefert und eher unwahrscheinlich. Dass er ihn benutzte, wenn er öffentliche Vorhaben durchsetzten wollte, ist dagegen eher anzunehmen.
Er war kein nur auf seinen eigenen Vorteil bedachter Kapitalist und verbissen in splendid isolation arbeitender Firmenboss, der nur die Mehrung seines Gewinns im Auge hatte und dafür 16 Stunden am Tag schuftete. Nein, er pflegte ein intensives Familienleben mit seinen sechs Kindern und deren zahlreichen Familienmitgliedern. Er machte ausgedehnte Fahrradtouren und Bergwanderungen und schweißtreibende Gipfelbesteigungen, verliebte sich in die Berchtesgadener Bergwelt, kaufte spontan Grundstücke, bebaute sie mit Gästehäusern, legte einen der schönsten Wanderwege in den Alpen an. Das Nazi-Verbrecherkartell, allen voran Martin Bormann, verwehrte Richard Linde den Zugang zu den Grundstücken und zwang ihn mit erpresserischen Methoden zu verkaufen - für einen Appel und ein Ei.
Dem evangelischen Christen blieb in seiner "zweiten Heimat" nicht verborgen, dass vor mehr als 250 Jahren die Protestanten unter schlimmsten Bedingungen aus Berchtesgaden zur Zwangsemigration getrieben wurden, mit der Folge, dass sie bis in die 1890er Jahre hinein keine Kirche besaßen. Carl von Linde half; er war Organisator und Sponsor - 1899 wurde das Gotteshaus eingeweiht.
Den Natur- und Ingenieurwissenschaften in Deutschland die Geltung und gesellschaftliche Akzeptanz zu verschaffen, weil sie Grundlagen der Volkswirtschaft sind, dafür setzte er sich ein in leitender Funktion beim Verein Deutscher Ingenieure, beim Deutschen Kälteverein, in der Akademie der Wissenschaften und als Gründungsmitglied des Deutschen Museums.
Wo bleibt die öffentliche Ehrung? Aufmüpfiger Pfarrerssohn, Studentenprotestler, Maschinenbauingenieur ohne Diplom, Lokomotivenkonstrukteur, Professor, Thermodynamiker, Kühlmaschinenerfinder, Luftverflüssiger, Firmengründer, Ritterkreuzträger, Naturbursche, Bergsteiger, Hotelbesitzer, Familienvater, Kirchenförderer, Kältepionier, Talenteschmied, Museumsgründer und ein Unternehmen, das heute zu den Weltmarktführern gehört - das Märchen vom langweiligen Ingenieurberuf, hat er es nicht ad absurdum geführt? Liebe Deutsche Post, wäre da nicht längst eine ehrenvolle Briefmarke fällig?
Bildnachweis.
Bild1: Aus: The Linde Group / Unternehmensgeschichte. Bild 2: Aus Wikipedia, Urheber Marcus Vetter, CC-BY-SA 3.0. Bild 3: Aus der Linde-Chronik. Bild 4, 5, 6: Eigene Darstellungen.
Bild 7, 8: Linde-engineering.com/internet.global.lindeengineering.global/de/images/Kryogene Luftzerlegung. Bild 9: Eigene Zeichnung. Bild 10 u. 11: Mit freundlicher Genehmigung der MAN Diesel & Turbo SE, 10/2012. Bild 12: Foto Babcock-Borsig Berlin.