Carl von Linde - Jugend und Werdegang

Er flog vom Polytechnikum weil er an einem Studentenprotest teilgenommen hatte

Pfarrerssohn will Ingenieur werden. Carl wurde 1842 als drittes von neun Kindern in ein evangelisches Pfarrhaus hineingeboren, im oberfränkischen Berndorf im Kreis Kulmbach. Wie kam es nun, dass er als Pfarrerssohn Ingenieur wurde? Sein Vater hatte eine Leidenschaft, die Physik. Seine Freizeit verbrachte er beim Experimentieren und Basteln von Apparaten. Hier wuchs Carls starke Neigung zur Technik, und so war schon absehbar, dass er mal nicht den für ihn vorgesehenen Beruf eines Theologen ergreifen sollte. Die große Familie war nicht auf Rosen gebettet, sie musste sich einschränken, es herrschte Mangel am Nötigsten, oft gab es trockenes Brot zu essen, die Kinder wurden oft bespottet, weil sie von der Mutter selbstgeschneiderte Kleidung trugen. Die Armut war aber kein Hindernis für diese Kinder, tüchtig zu lernen und ihre Fähigkeiten zu entfalten. In seinen Erinnerungen hebt Carl hervor, dass trotz der Einfachheit der Lebensführung die Eltern alle Anstrengungen machten, um den Kindern alles Erreichbare zu bieten, was zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten dienen konnte.

Sein Vater bekam eine Pfarrstelle in Kempten im Allgäu, Carl wurde Schüler am humanistischen Gymnasium. Er war alles andere als ein Musterschüler, er bekam eine große Abneigung gegen das Lernen grammatischer Regeln in den alten Sprachen, während er eine Vorliebe für das Französische entwickelte ... und ganz besonders für die naturwissenschaftlichen Fächer. Er  besuchte häufig die dortige Baumwollspinnerei und war von den Produktionsabläufen fasziniert. Dampfmaschinen und Turbinen übten mit ihren mächtigen Naturkräften einen derartigen Zauber auf ihn aus, dass er von diesen Kräften mehr wissen wollte und lernen wollte, wie man sie lenken und beherrschen kann. Der Wunsch, Ingenieurwissenschaften zu studieren, war nun gar nicht mehr abzuwenden, und der Wunsch des Vaters, dass sein Sohn Pfarrer würde, war damit endgültig passé. Aber der Vater war einsichtig und setzte Carls Berufswunsch keinerlei Widerstand entgegen. Er hatte nur eine Bedingung: Streng dich an, dass du das Maschinenbaustudium in drei Jahren schaffst!

Bild 1. Gottfried Sempers Polytechnikum in Zürich, Carl Lindes vorbildliche Alma Mater. Hier ließ ihn die angewandte Thermodynamik Feuer fangen, um dann später in Kälte verwandelt zu werden. Ein Gemälde von 1865.

Auf dem Polytechnikum in Zürich. Nach dem Abitur begann Carl 1861 mit dem Studium am Polytechnikum Zürich. Auch diese Schule hatte er sich in den Kopf gesetzt. Die Aufnahmeprüfung gelang nicht direkt, sondern er bekam die Auflage, erst einen Vorkurs zu absolvieren, weil es an einigen Vorkenntnissen haperte. Er kniete sich mit Eifer ins Studium, die Probezeit wurde gemeistert, hatte er doch ausgezeichnete und engagierte Professoren, wie Franz Reuleaux und Gustav Zeuner im Maschinenbau und Rudolf Clausius in der Thermodynamik.

Bild 2 und 3. Der 1. Hauptsatz der Thermodynamik, beispielhaft gezeigt für die Zustandsänderungen in einem Kompressor, z.B. für eine Kälteanlage. Energien werden ineinander umgewandelt: Arbeit in Wärme, Enthalpie und kinetische Energie; nichts geht verloren.

Besonders vom letzteren Fach fühlte er sich mehr und mehr gefesselt, weil es ihm erklärte, wie die verschiedenen Energieformen auf geheimnisvolle Weise ineinander umgewandelt werden können. Keine Energie geht verloren, aber nutzbare Energie wird auf der Erde laufend in nicht mehr frei zur Verfügung stehende Energie umgewandelt. Von der wissenschaftlichen Thermodynamik Clausius´ führte ihn Zeuner zur Theorie der Wärmekraftmaschinen, und diese angewandte Wärmelehre sollte das Grundthema seines Lebens werden.

Bild 4. Sein akademischer Lehrer und Förderer, Maschinenbau-Professor Franz Reuleaux in Zürich. Bild 5. Professor Rudolf Clausius entfachte in ihm das Feuer für die Wissenschaft. Er war der Entdecker des 2.Hauptsatzes der Thermodynamik und Schöpfer des Begriffes der Enthropie. In seiner berühmten Arbeit von 1850 Über die bewegende Kraft der Wärme und die Gesetze, welche sich daraus für die Wärmelehre ableiten lassen, formulierte er erstmals die beiden Hauptsätze vollständig.

Carl Linde war aber beileibe kein Student, der mit Scheuklappen durchs Studium hastete und auf schnellstem Weg ein Fachidiot werden wollte. Er hatte Freude an einem "Studium generale", hörte begeistert Vorlesungen über Goethes Faust und Shakespeares Hamlet, lernte Gottfried Keller persönlich kennen, hatte großen Spaß an Kunstgeschichte und Architektur und machte auch die Bekanntschaft des großen Baumeisters Gottfried Semper, nach dessen Plänen das neue Hauptgebäude des Polytechnikums Zürich 1864 fertiggestellt wurde. Es strahlte das neue eidgenössische Selbstbewusstsein der Schweizer aus und unterstrich auf beeindruckende Weise die zunehmende Bedeutung der Technikwissenschaften.

Der Rauswurf wirft ihn nicht aus der Bahn. 1864 kam der große Rückschlag in Carl Lindes Ausbildung: Er wurde zwangsexmatrikuliert wegen der Teilnahme an einem Studentenprotest, der sich gegen den Direktor richtete. Als sehr harte Disziplinarmaßnahme wurde ihm der Hochschulabschluss und damit das Ingenieurdiplom verwehrt. Anstelle des Diploms bekam er zwei empfehlende Zeugnisse von Zeuner und Reuleaux mit auf den weiteren Berufsweg. Frustriert aufgeben, auf den Ingenieurberuf verzichten? Kam für Carl Linde nicht in Frage. Aber da saß er nun erst einmal nach drei Jahren fleißigen Studiums auf einer vorbildlichen Lehrstätte. Reuleaux hatte ihm noch dringend eine Werkstättenpraxis ans Herz gelegt und als unerlässlich bezeichnet. Er kam erst mal in der Mechanikwerkstatt der Baumwollspinnerei Kempten unter. Seine wunderbaren Höhenflüge in der Thermodynamik waren beendet, und Schraubstock und Drehbank waren jetzt zwölf Stunden am Tag seine Arbeitsmittel. Er wurde mit der Massenherstellung von Spinnstuhleinzelteilen beschäftigt. Keine Frage, dass da keine große Freude aufkam. Er wollte doch kennenlernen, wie Maschinen aus Einzelteilen zusammen gesetzt werden. Also musste er hier weg. Er wollte als nächstes eine Stelle in einem Zeichenbüro einer Maschinenfabrik bekommen. Aus München und Augsburg kam er niedergeschmettert nach Hause. Er war noch nicht mal am Portier vorbeigekommen.

Bild 6. Albert Borsig, Chef der Lokomotivfabrik in Berlin, verschaffte ihm seinen ersten beruflichen Ankerplatz. Von diesem Sprungbrett aus ging es für Carl Linde weiter.

Erste Berufstätigkeit bei Borsig in Berlin. Jetzt hieß seine Losung: Auf nach Berlin, in die aufstrebende Gewerbe- und Industriestadt! Da gibt es viele Maschinenfabriken im "Feuerland" am Oranienburger Tor. Er klopfte bei größeren und kleineren Maschinenfabriken an ... ohne Erfolg. Da erhielt er einen Brief von Professor Reuleaux, der inzwischen nach Berlin als Direktor der Gewerbeakademie übergesiedelt war. In der Borsigschen Lokomotivfabrik sei ein Ingenieur ausgeschieden und Linde möge sich schleunigst um die frei gewordene Stelle bewerben. Er schickte sofort seine Zeugnisse aus Zürich und den Brief Reuleaux´ ein und wurde von Albert Borsig, dem Sohn des 1854 gestorbenen Firmengründers empfangen. Er war bereit, Linde als Werkstattvolontär mit Anwartschaft auf eine Stelle im Zeichenbüro einzustellen. Nach einigem Zögern (schon wieder an den Schraubstock?) schlug Carl ein. Strengen Sie sich an, wenn Sie sich so anlassen, wie ich es mir vorstellen kann, so dauert es kein halbes Jahr, und Sie können eine Familie gründen, ohne Ihrem Vater weiter auf der Tasche zu liegen. Dieser Satz Borsigs war für Linde ein Schlüsselsatz. Er wollte doch endlich Helene Grimm, Tochter eines Generalstaatsanwalts aus Berlin heiraten, aber er musste es sich auch leisten können. Daher biss er die Zähne zusammen, stand wieder zehn Stunden am Schraubstock bei Borsig und bearbeitete Sicherheitsventile für Lokomotiven, um sich die Stellung im Zeichenbüro mit höherem Gehalt zu verdienen. Er hatte seinen ersten beruflichen Ankerpunkt gefunden und war glücklich, dass er nicht weit von seiner Angebeteten arbeitete.

Eines Tages hieß es: Linde ins Comptoir! Er meldete sich beim Chefingenieur und erfuhr, dass morgen eine Lokomotive nach Magdeburg überführt werden und er dabeisein soll. Er war stolz, dass er diese Vergünstigung erfuhr. Er machte sich so gründlich mit der Fahrtechnik der Lok vertraut, dass er auch auf die nächste Ablieferungstour mitgenommen wurde. Als dann Eilzugmaschinen nach Hamburg zu fahren waren, stand Carl viermal selbst am Steuer, eine besondere Gunst für einen Volontär! Dann wurde er 1865 in das Zeichenbüro übernommen mit einem monatlichen Gehalt von 16 Talern: Er fühlte sich als absoluter Krösus, und die Aussicht, nach sechs Jahren Wartezeit zu heiraten und eine Familie zu haben, rückte in greifbare Nähe. Es bestand aller Grund zur Freude, doch Carl wurde unzufrieden. Was kam jetzt? Sich bei Borsig zum Oberingenieur hochdienen? Das ging sehr langsam, und die Gehälter stiegen noch langsamer. Mochte die Fabrik auch eines der bedeutendsten Unternehmen des Maschinenbaus sein, ihm half jetzt nur eine Veränderung. Seine Unruhe und Ungeduld drängten ihn auf einen neuen Weg. Sein Vater hatte davon Kenntnis erhalten, dass der Maschinenmeister Krauß in München eine neue Lokomotivfabrik gründen wolle. Und, man höre und staune, Carl Linde ging gleich richtig hoch heran und bewarb sich bei Krauß als Vorstand für das technische Büro. Ganz schön selbstbewusst der 23-jährige junge Mann! Er musste offensichtlich auf Krauß großen Eindruck gemacht haben; denn er erhielt nach einiger Zeit ein Telegramm von Krauß: Fabrikgründung vorgenommen, erwarte Sie baldmöglichst. Mit diesem Telegramm in der Hand konnte er nun Helenes Eltern um ihr Ja-Wort bitten.

Bild 7. Der Kältepionier Linde als Lokomotiv-Konstrukteur. Die erste Krauß-Lok von 1867.

Bei Krauß in München konstruiert er wieder Lokomotiven. Krauß und Linde hatten eine starke Geistesverwandtschaft im Ingenieurschaffen, dessen Grundsätze genau so im Lokomotiv- wie beim Kälteanlagenbau gelten: Das Bestmögliche aus der Leistung im Verhältnis zum Aufwand herauszuholen. Das nennt man auch Effizienz oder Wirkungsgrad. So stürzte sich Linde 1866 in den Bau von Lokomotiven. Die Devise hieß, Gewichtsreduzierung bei gesteigertem Aktionsradius durch Weglassung aller Totgewichte, wodurch die Übertragung des Drehmoments auf die Schiene durch Erhöhung der Adhäsion entscheidend verbessert wurde. Sparsamster Materialeinsatz bei naturgesetzlich höchsterreichbarer Leistung. Genau das gleiche Prinzip wandte er später auf dem Gebiet der Kältetechnik an. Krauß hatte schon einen Auftrag von der Oldenburgischen Eisenbahn auf zwei Lokomotiven erhalten, und Linde machte sich nun an die Anfertigung der Konstruktionszeichnungen für Tausende von Lokomotiveinzelteilen, immer unter der Devise "Gewichtsverminderung" bei allen Bestandteilen. So hatte er sich Ingenieurarbeit vorgestellt: Aus papierenen Entwürfen ein Gebilde aus Stahl herzustellen, eine davonfahrende, Arbeit leistende Maschine. 1867 stand sie fix und fertig da in der Werkstatt und wurde zur Weltausstellung nach Paris geschickt. Sie wirkte unscheinbar gegen die Monster von Maffei, Eßlingen und Karlsruhe; aber, da sie die gleiche Leistung brachte wie ihre Nachbarinnen, erregte sie Aufmerksamkeit und bekam prompt die goldenen Medaille. Unter dem Namen "Landwührden" tat sie bis 1900 ihren Dienst und steht jetzt im Deutschen Museum als Denkmal deutscher Technik.

Als Professor in München findet er zur Kältetechnik. Schon strebte Carl Linde seine nächste Lebensstufe an. Er bewarb sich für das neu zu gründende Polytechnikum München als Hochschullehrer. Der zuständige Referent für das technische Schulwesen war nicht wenig erstaunt über den Mut des 25-jährigen. Aber es klappte wieder! Linde hielt zunächst eine Vortragsreihe über Lokomotivbau, dann 1868, nach Ernennung zum außerordentlichen Pofessor, Vorlesungen über mechanische Wärmelehre. Jetzt war er auf dem Gebiet angelangt, das ihn für den Rest seines Lebens beschäftigen und herausfordern sollte, die Kältetechnik. Er war der Meinung, dass die Fachwelt bisher nicht den Versuch gemacht hatte, die Ergebnisse der Wärmelehre für die Kältetechnik nutzbar zu machen. Er verfasste 1870 zwei Aufsätze: Wärmeentziehung bei niedrigen Temperaturen durch mechanische Mittel und: Verbesserte Eis- und Kühlmaschine. Sein Einkommen als Professor war niedriger als bei Krauß, so dass er zum Ausgleich umfangreiche Nebentätigkeiten übernommen hatte. So kam es zu einem Zusammenbruch (heute würde man "burnout" sagen), der ihn zwang, ein Sommersemester lang Urlaub in Berchtesgaden zu verbringen. Arbeitsruhe, frische Bergluft und die wunderbare Natur auf dem Obersalzberg waren gute Heilmittel, und so konnte er seine Tätigkeit am Polytechnikum in München aufs neue aufnehmen.

1872 wurde ihm die Ernennungsurkunde zum ordentlichen Professor zugestellt; so war nun für ihn die Zeit abgeschlossen, in der er unter der Sorge um das tägliche Brot gelitten hatte. Er gliederte jetzt seinem Lehrgebiet "Wärmekraftmaschinen" die Theorie der Kältemaschinen ein. Es sollte aber nicht bei der Theorie bleiben. Er konnte eine lange gehegte Idee durchsetzen: Den angehenden Maschineningenieuren die Möglichkeit geben, dem theoretischen Unterricht die praktischen Übungen hinzuzufügen. Und so erhielt das Polytechnikum als erstes in Deutschland ein Maschinen-Laboratorium, in dem die Arbeitsvorgänge durch unmittelbare Anschauung lebendig gemacht werden konnten.

Er gründet seine eigene Firma: Lindes Eismaschinen. Er war jetzt schon so weit in die Entwicklung der Kältetechnik eingedrungen, dass in ihm immer mehr die Idee reifte, eine Firma zu gründen, die sich mit dem Entwurf und der Lieferung von Kälteanlagen befassen sollte. Er trug den Gedanken monatelang mit sich herum, da die neue Aufgabe ja den Verlust seiner akademischen Tätigkeit bedeuten würde. Aber auf der anderen Seite wusste er, dass er in der Kältetechnik in einzigartiger Weise die physikalischen Grundlagen mit seinem praktischen Wissen als Maschinenbauer verband. Damals gab es nur wenig Menschen, die auf beiden Gebieten zu Hause waren. 1878 reichte er schweren Herzens das Gesuch ein, aus dem Staatsdienst entlassen zu werden. Ein Versuch des Rektors, ihn zur Rücknahme des Gesuchs zu bewegen blieb erfolglos. Im März 1879 siedelte Carl Linde mit seiner Familie nach Wiesbaden um, an den Sitz der "Gesellschaft für Lindes Eismaschinen", bei deren Gründung er sich verpflichtet hatte, die Geschäftsführung für zehn Jahre zu übernehmen.

Jugend und Werdegang mündeten nun ein in seine große Zeit als Unternehmer, der die Kühltechnik revolutionierte und die Luftverflüssigung erfand. Im Beitrag "Die ganze Geschichte" erfahren wir, wie der mit allen theoretischen und praktischen Wassern gewaschene Maschinenbau-Ingenieur und Firmenchef unser aller Leben durch seine Innovationskraft veränderte.

 

Die Luftverflüssigung - die ganze Geschichte

 

Bildnachweis

Bilder 1, 4, 5: Aus Wikipedia, gemeinfrei, Urheberschutz abgelaufen. Bild 2, 3: Eigene Zeichningen. Bild 6: Aus "Berlin macht Dampf", Werksveröffentlichung, MAN Turbomaschinen, Berlin, 2003. Urheberschutz abgelaufen. Bild 7: Deutsches Museum, Urheberschutz abgelaufen.