Was kann man mit Kälte alles machen! Ohne Kälte läuft heute gar nichts mehr. Unser Kältepionier ist der Erfinder der künstlichen Kälte. Aber was heißt "künstliche" Kälte? Anstatt das Natureis aus Teichen einen ganzen Sommer lang in tiefen Kellern aufzubewahren oder gar die Nordpolkälte in isolierten Rohrleitungen in warme Länder zu leiten, wandte er "nur" die Naturgesetze folgerichtig an und wurde so zum Pionier der Kältetechnik. Er kehrte die Theorie der Wärmekraftmaschinen um und kam so zur Theorie der Kältemaschinen. Nicht Wärme zuführen und Arbeit gewinnen, sondern Arbeit zuführen und Wärme entziehen (=Kälte erzeugen).

Ohne Kälte keine Kühlschränke, keine Kühlhäuser, keine Klimaanlagen (der Süden der USA könnte als Wohn- und Industriezone nicht genutzt werden), keine Sauerstoff- und Stickstoffgewinnung, keine Teilchenphysik, ohne Tieftemperaturtechnik läuft nichts bei der Quantenforschung (der Quantencomputer läuft nur nahe am absoluten Nullpunkt), der LHC, der größte Teilchenbeschleuniger funktioniert nur bei Tiefsttemperaturen.

Carl von Linde (*1842 Berndorf, Kr. Kulmbach, †1934 München) schreibt in seinen Lebenserinnerungen über den denkwürdigen Tag im Mai 1895: Mit freudiger Spannung sahen wir die Temperatur nach dem von Thomson und Joule angegebenen gesetzmäßigen Verlaufe sinken, auch nachdem die Grenzen weit überschritten waren, innerhalb welcher jene Forscher gearbeitet hatten. Die Rede ist von der Luftverflüssigung, die ihm die Zerlegung in Sauerstoff und Stickstoff ermöglichen und ganz neue Perspektiven in der physikalischen Forschung eröffnen sollte. Allerdings ging die Abkühlung nur sehr langsam vonstatten, und über Nacht ging ein Teil der gewonnenen Kälte wegen unzureichender Isolierung der Versuchsapparate wieder verloren.

Das war der erste Versuch, die Luft zu verflüssigen - mit Hilfe des Joule-Thomson-Effekts.Damit war das Tor aufgestoßen für eine Fülle von Anwendungen in der Physik, Chemie, mechanischen Fertigung, Medizin, Raumfahrt....

Bild 2. So gelang Carl von Linde die Verflüssigung der Luft: 1) Das gesamte System wird mit Druckluft von 20 bar aufgefüllt, 2) der Kompressor verdichtet die Luft auf 200 bar, 3) im Wasserkühler wird auf die Ansaugtemperatur zurückgekühlt, 4) im Gegenstrom-Wärmetauscher (zwei ineinandergesteckte Rohre, spiralig aufgerollt) wird sehr stark gekühlt, 5) im Drosselventil wird isenthalp (bei konstanter Enthalpie) entspannt von 200 auf 20 bar, dabei kommt es durch den Joule-Thomson-Effekt zur Abkühlung (zu Anfang noch nicht zur Verflüssigung), 6) die kältere Luft wird durch den Wärmetauscher geführt und kühlt im Gegenstrom die Luft zum Drosselventil, 7) durch die Entspannung entsteht jetzt noch kältere Luft, die die Luft weiter abkühlt vor der Drossel und am Verdichtereintritt, 8) die Luft hinter der Drossel wird stetig kälter bis bei der isenthalpen Entspannung das Gebiet des Flüssigkeits-Gasgemisches bei -190°C erreicht wird, 9) flüssige Luft von 20 bar und -190°C kann jetzt abgefüllt werden, während die -190°C kalte gasförmige Luft zum Kompressor zurück geführt wird, ergänzt durch neue Druckluft aus der Flasche.

Bild 3. So sieht der thermodynamische Ablauf der Luftverflüssigung im log p-h-Diagramm aus. 1 nach 2: Verdichtung im Kompressor von 20 auf 200 bar, die Luft erhitzt sich von 20 auf 65°C. 2 nach 3: Rückkühlung im Wasserkühler auf Umgebungstemperatur. 3 nach 1´: Durch isenthalpe Entspannung wird nach der Drossel -25°C erreicht, 1´ nach 2´: Die Verdichtungslinie ist jetzt von A nach B verschoben, die Verdichtungsendtemperatur niedriger als 65°C. Nach jedem Kreislauf reduziert die Drosselung und der Gegenstrom-Wärmetauscher die Temperatur vor der Drossel weiter, die Verdichtungslinie rutscht nach C und so weiter, so lange bis beim Drosseln das Gas-/Flüssigkeitsgebiet erreicht wird. Bei 20 bar und -190°C hat die flüssige Luft den Zustand 5´´ und die gasförmige Luft den Zustand 5´.

Die Luftverflüssigung gelingt durch den geheimnisvollen, seit 1852 bekannten Joule-Thomson-Effekt. Den kann man gut beobachten bzw. fühlen, wenn man das Ventil aus dem Fahrradschlauch herauszieht: Der in den Luftstrom gehaltene Finger zeigt deutlich eine Temperatur unter der Umgebungstemperatur an. Die Ursache liegt in der Wechselwirkung der Gasteilchen. Nach der Entspannung wird der Teilchenabstand größer, weil eine bestimmte Gasmenge einen größeren Raum einnimmt. Die sich anziehenden Teilchen müssen jetzt durch Mehrarbeit auf die größeren Abstände gezwungen werden. Die Energie dazu kommt aus der Bewegungsenergie der Gasteilchen, das Gas kühlt ab, die kinetische Energie sinkt.

Bild 4. Eine der ersten Anlagen zur Luftverflüssigung von 1899 (im Deutschen Museum München). Rechts der Kompressor, in der Mitte der Vorkühler, links der Verflüssiger mit dem Gegenstrom-Wärmetauscher und Drosselventil.

Der schwierige Weg zur künstlichen Kälte. Der große englische Philosoph und Wissenschaftler Francis Bacon schrieb in seiner Naturgeschichte "Sylva Sylvarum" schon im Jahr 1669: Wärme erhält man viel leichter als Kälte. Ein Feuer kann entzündet und leicht aufrechterhalten werden. Der Kälte muss man nachlaufen, auf den Höhen der Berge, in Erdhöhlen, tiefen Kellern, oder man muss auf sie warten, bis sie da ist, auch dann lässt sie sich nicht halten. Er hatte erkannt, dass der Kälte eine ebenso große Bedeutung wie der Wärme zukommt. Bei Bacon blieb es bei der Feststellung, Linde hat uns gelehrt, wie man durch folgerichtige Anwendung der Naturgesetze zur künstlichen Tieftemperatur-Kälte gelangt. Er hatte den wissenschaftlich arbeitenden Verstand, wie man diesen unnatürlichen Vorgang, unter die Umgebungstemperatur herunterzugehen, bewerkstelligen kann. Kältetechnik ist kein Gebiet der Versuchskünstler, hier musste die physikalische Forschung der praktischen Verwirklichung den Weg weisen. In Carl Linde war beides, Theorie und Praxis, in einer Person vereinigt.

Sein Weg verlief in fünf logisch aufeinander folgenden Etappen: Am Anfang war die wissenschaftliche Forschung in der Thermodynamik. Die daraus entspringenden Ideen der Anwendung dieser Erkenntnisse bedurften erfinderischer Gaben, um sie in die Tat umzusetzen. Diese drei Voraussetzungen sind notwendig, aber hinreichend wird die Sache erst dann, wenn die Fähigkeit zu wirtschaftlichem Denken und die Kunst der Menschenführung hinzukommen. Die Vereinigung aller dieser Eigenschaften garantierte Carl Linde den weltweiten Erfolg auf dem Gebiet der künstlichen Kälte. So wuchs aus dem scheinbar unbedeutenden und bisher kaum zur Kenntnis genommenen Joule-Thomson-Effekt die mächtige Industrie der Gasverflüssigung und Zerlegung von Gasgemischen - das Lebenswerk Lindes.

Von der Wärme in die Kälte. Was ist Wärme, was ist Kälte? Die Physilker haben eine willkürliche Grenze bei der Temperatur des gefrierenden Wassers von 0 °C gesetzt, was ja durchaus dem "Empfinden" entspricht. Aber das ist genau genommen eine Temperaturgrenze, die unsere Celsius-Temperaturskala in "Kälte- und Wärmegrade" aufteilt. Eigentlich gibt es gar keine Kältegrade. Der absolute Nullpunkt der Temperatur liegt bei 0 °K (Grad Kelvin), und der liegt, in Celsius ausgedrückt, bei -273,15 °C. Oberhalb von 0 °K beginnen schon die Wärmegrade, so dass -272,15 °K schon 1 Grad Wärme ist.

Wie entsteht Kälte im täglichen Leben? Zwei Beispiele mögen es verdeutlichen. Eine Weinflasche wird in einen Behälter mit Eistückchen gestellt. Das Eis muss schmelzen, da seine Umgebung wärmer ist als 0 °C. Die zum Schmelzen erforderliche Wärme entzieht es dem Inhalt der Weinflasche. Der Wein, der vorher 20 °C hatte, gibt Wärme an das Eis ab und wird selbst kälter. Oder wir umwickeln die Weinflasche mit einem feuchten Tuch. Obwohl der Wein und das Tuch dieselbe Temperatur haben, verdunstet (verdampft) das Wasser im Tuch und entzieht dem Wein die zum Verdunsten erforderliche Wärme, der Wein wird kälter (das war die alte Methode, als es noch keine Kühlschränke gab). Auch dem Raum im Kühlschrank wird Wärme entzogen. Es ist also nicht so, dass Kälte (es gibt ja gar keine Kälte!) in den Kühlraum transportiert wird, sondern ihm wird durch Verdampfen des umlaufenden Kältemittels Wärme entzogen, wodurch der Inhalt gekühlt wird.

Bild 5. So funktioniert die Kälteerzeugung nach dem System Linde: Die Thermodynamik im Druck-Enthalpie-Diagramm. Das umlaufende Kältemittel war Methyläther, später Ammoniak, Schwefeldioxid oder Kohlendioxid. 1 nach 2 Verdichtung, 2 nach 3 Verflüssigung (Wärmeabgabe in die Umgebung), 3 nach 4 Drosselung (Drucksenkung), 4 nach 1 Verdampfung (Wärmeentzug im Kühlraum). Genau so arbeitet noch heute ein moderner Kühlschrank, allerdings mit anderen Kältemitteln.

Bild 6. Das Schaltschema der Linde-Kältemaschine. Kälte ist die Abwesenheit von Wärme, und die wird erreicht durch vier Komponenten: Kompressor, Verflüssiger, Drossel, Verdampfer. Vor und hinter dem Drosselventil ist das Kältemittel flüssig, daher tritt hier kein Joule-Thomson-Effekt auf (den gibt es nur bei Gasen). In den Rohrschlangen des Verdampfers, die im gekühlten Raum liegen, muss es verdampfen, weil die Umgebung hier wärmer ist. Dadurch wird dem Kühlgut Wärme entzogen. Verdampfungswärme plus mechanische Arbeit des Kompressors = in die Umgebung abgeführte Wärme.

Die ersten Pioniere künstlicher Kälte waren William Cullen in 1748, Alexander Twinning in 1834 und Ferdinand Carré in 1859. Diese Kühlverfahren waren noch recht vorsintflutlich und nicht effizient, weil sie jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrten. Carl Linde stellte fest, dass keine Methode mehr als ein Fünftel der naturgesetztlichen Höchstleistung lieferte. Er war es, der es sich auf die Fahne geschrieben hatte, das Verhältnis von Kühlleistung zum Energieaufwand zu maximieren. Sein Verfahren der stetigen Verdampfung, Verdichtung, Verflüssigung in einem Kreisprozess, der damit Wärme aus einem Raum entnahm und unter Einspeisung von mechanischer Energie in einen anderen Raum ablieferte, ergab zum ersten Mal die Möglichkeit, künstliche Kälte industrietauglich und ökonomisch herzustellen.

Vom Natureis zum Kunsteis. Wie kühlten früher die Menschen ihre Lebensmittel und Getränke? Mit Natureis. Schon Kaiser Nero ließ sich Schnee aus den Alpen nach Rom transportieren, und die orientalischen Sultane ließen sich Natureis aus dem Norden bringen. Ab 1805 begannen die Amerikaner einen schwunghaften Handel mit Natureis aus den nördlichen Bundesstaaten. Sie lieferten es in den Süden, bauten in New Orleans ein Eislagerhaus, dehnten ihre Lieferungen in die Karibik und bis nach Rio de Janeiro aus. In Maine, bekannt durch strenge Winter, gab es noch um 1880 50 Eishäuser und am Hudson River 135. In Europa war der norwegische Eishandel berühmt, sie lieferten das Eis auf Schiffen durch den Suezkanal bis nach Südafrika und Ostindien. Schlimm wurde es, wenn die Winter milde waren. So kam es, dass langsam aber sicher das Kunsteis das Natureis verdrängte.

Von der Theorie zur Praxis. Am Anfang ging´s ums Bier. Die Theorie war klar, das System funktionierte auf dem Papier. Wie setzte nun Linde seine Erkenntnisse in die Praxis um? Er machte sich als erstes daran, Kühlräume für Lebensmittel und Getränke zu realisieren. Das sollte nicht mehr mit eingelagerten Eisblöcken geschehen, sondern mit seiner neu konzipierten Kältemaschine. Und da kamen ihm die bayrischen Bierbrauer entgegen, allen voran Gabriel Sedlmayr, der Chef der Münchner Spatenbrauerei. Es war also der Bierdurst der Bayern, der der neuzeitlichen Kältetechnik zum Durchbruch verhalf. Sedlmayr erlaubte Linde, 1873 in seiner Brauerei die allererste Versuchsmaschine aufzustellen, obwohl ihm klargemacht wurde, dass er mit einem längeren Versuchsstadium rechnen müsse, so wie es bei jedem Prototyp der Fall ist. Das Gerät wurde in der Augsburger Maschinenfabrik (jetzt MAN) hergestellt. Systematisch ging Linde daran, Schritt für Schritt seine Pläne in die Tat umzusetzen. Die Verflüssigung des Kältemittels Methyläther gelang mit Wasserdurchfluss. Die dem Verdampferraum entzogene Wärme benutzte er zur Kühlung von Sole, das ist eine Wasser-Salz-Lösung, die er in ein im großen Kühlraum installiertes Rohrsystem pumpte, das die Kühlraumluft auf die für die Bierkühlung notwendige Temperatur absenkte. Die erwärmte Sole verließ den Kühlraum, um dann im Verdampfer wieder heruntergekühlt zu werden. En Hoch auf die bayrischen Bierbrauer, die zum Motor des Fortschritts in der Kältetechnik wurden!

Bild 7. Kühlraumtechnologie made by Linde, schematisch. Das Kältemittel entzieht der Sole im Verdampfer Wärme. Die kalte Sole strömt durch die Rohre und kühlt dadurch die Luft im Kühlraum, dessen Wände gut isoliert sind. Die Kältemittelverflüssigung wird mit Wasser erreicht, das durch den Kondensator fließt.

Bild 8. 1877 erhielt Carl Linde vom Kaiserlichen Patentamt Berlin das Patent auf seine "Kälteerzeugungsmaschine".

Es war nur natürlich, dass erst wenige Bierbrauer auf Lindes künstliche Kälte umsteigen wollten. Einige waren sogar strikt dagegen: Wir vertrauen unser lagerndes Bier doch nicht ihrer Maschine an, deren Versagen für uns eine Katastrophe bedeuten würde! Sie blieben beim Natureis, aber nur bis zum nächsten milden Winter. Dann kamen sie wieder zu ihm: Kannst du uns nicht künstliches Eis herstellen? Und er konnte.

Es gab schon eine sehr aufwändige Methode der Herstellung von Kunsteis - in Blechkästen mit Gefrierzellen, die einen Zellenwagen, einen Kran und sehr viel Handarbeit erforderte; eine wirtschaftliche Produktion größerer Mengen war nicht möglich. Die Eisblöcke waren trüb, undurchsichtig und bröckelig infolge der eingeschlossenen Luft. Restaurants verlangten nach Klareis als kühlende Beigabe zu Getränken. Linde baute eine erste Apparatur, die erstmalig Klareis nahezu vollautomatisch erzeugte.

Bild 9. Lindes Klareisapparat von 1877 - einfach, genial, aus Holz. Diese Geräte arbeiteten viele Jahre zufriedenstellend. Vereinfachte Schema-Darstellung.

Der Verdampfer der Kältemaschine befindet sich in einer mit kalter Sole gefüllten Trommel, die sich in einem darunter liegenden halbrunden, mit Brunnenwasser gefüllten Gefäß dreht. Nach außen offene Taschen sind radial in die Trommel eingebaut. Bei der langsamen Drehung tauchen die Taschen abwechselnd in das Brunnenwasser ein, wodurch sich in den Taschen langsam eine Eisschicht aufbaut. Luftbläschen, werden beim Heraustreten aus dem Wasser weggeschwemmt, so dass sauberes Klareis entsteht.

Linde erfand bald danach ein einfacheres, wirtschaftlicheres Verfahren zur Klareiserzeugung. Das war ein Rüttelwerk, bei dem lange Stahllamellen in neben- und hintereinander angeordnete Eiszellen in einem viereckigen Bottich eintauchen und durch Rütteln die Luftblasen zum Hochsteigen und Ausscheiden zwingen. Carl Linde ruhte sich also überhaupt nicht auf einmal errungenen Lorbeeren aus.

Ab 1879 war Linde nun sein eigener Fabrikherr in der Firma "Lindes Eismaschinen" in Wiesbaden. Als der Winter 1883/84 so mild war, dass kein Natureis geerntet werden konnte, brach eine wahre Auftragsflut über die junge Firma herein. Er hatte aber schon in weiser Voraussicht vorgesorgt, hatte von verschiedenen Maschinengrößen und Rohrleitungen einen beträchtlichen Vorrat angelegt und konnte so Hunderte von Kilometern Solerohre in den Labyrinthen der Brauereien verlegen. Die durstige Menschheit war wieder einmal gerettet. Bis zum Ende der 1880er Jahre rüstete die Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen 445 Brauereien mit 747 Kältemaschinen aus. Dank ganzjährig gesicherter Kühlung konnten die Brauereien nun auch im Sommer untergäriges Bier brauen und somit ihre Wirtschaftlichkeit deutlich steigern.

Lindes Kältemaschinen - und viele, viele Anwendungen. Die erste eigene Eisfabrik baute Linde in Elberfeld-Barmen für zwei Brauereien, die sich verpflichtet hatten, größere Mengen des künstlich erzeugten Eises abzunehmen. Bis 1881 eröffnete die Linde-Gesellschaft weitere Eiswerke in Paris, Stuttgart, München und Straßburg. Jede stellte täglich bis zu 50 t Eis her – und zwar zum ausgesprochen wettbewerbsfähigen Preis von 70 Pfennig je 100 Kilogramm. Nach 1896 baute die Firma Eiswerke und Kühlhäuser in Nürnberg (1896), Leipzig (1910), Königsberg (1914) und Magdeburg (1937). Mit dem gesetzlich initiierten Aufbau von kommunalen Schlachthöfen während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts entstand auch zunehmender Bedarf an Kühlhäusern für die Lagerung von Fleisch und anderen Lebensmitteln – ein weiterer Absatzimpuls für Kältemaschinen. Die erste Fleischkühlanlage entstand 1882 in Bremen, wobei Linde als Berater eingeschaltet wurde. Ein Jahr später rüstete er das städtische Schlachthaus in Wiesbaden aus und löste dabei die komplexe Aufgabe, nicht nur die Kälte zu erzeugen, sondern gleichzeitig die Luft zu trocknen und zu reinigen. Als dann zu Beginn der 1890er Jahre infolge geänderter Gesetzgebung fast alle größeren Gemeinden in Deutschland ihre Schlachthöfe mit Kühlräumen ausstatteten und Kühlhäuser bauten, entwickelte sich dieser Bereich neben den Brauereien rasch zum zweitgrößten Markt für Kälteanlagen. Die Arbeitsweise der Gefrierräume ist grundsätzlich überall dieselbe: Man treibt mittels Ventilatoren einen kräftigen, durch Sole gekühlten Luftstrom hindurch. Der aus den Räumen zurück fließenden, erwärmten Sole wird im Verdampfer wieder die Wärme entzogen, und sie kann nun wiederum die umlaufende Luft zurück kühlen.

Die Linde´sche Kältetechnik wurde nun auch für die Milchkühlung verwendet. Kältemaschinen wurden nun auch in Eisenbahnen, Lastkraftwagen und Schiffe eingebaut; so konnten die Waren während des längeren Transports frisch gehalten werden. Für diverse Industriezweige erlangte die Kältetechnik eine außerordentliche Bedeutung: In der Gummifabrikation, in Färbereien, in der Tabakindustrie, Lederverarbeitung, Schokoladenherstellung, Herstellung von Fotofilmen. In der chemischen Industrie dienen Kältemaschinen zur Gaskühlung und Gastrocknung. Zuckerfabriken, Baumwollspinnereien, Seifen- und Parfümerie-Industrien sind auf Kühlanlagen angewiesen.

Die Kältetechnik ermöglichte jetzt auch das Anlegen von Schächten in sumpfiger Erde. Man treibt mehrere kreisförmig angeordnete Rohre, die je aus zwei ineinandergeschobenen Rohren bestehen in den schlammigen Untergrund, führt durch das engere Rohr kalte Sole ein und lässt sie im Ringquerschnitt zwischen den Rohren wieder aufsteigen. Dadurch gefriert der Sumpf in der Umgebung bis die Eissäulen zusammenwachsen und einen großen Eisschacht bilden, aus dem das feuchte Erdreich entfernt werden kann. Der Schacht kann jetzt ausgemauert und danach der Kältemaschinenbetrieb eingestellt werden. So können Schächte von mehreren hundert Metern Tiefe ausgehoben oder U-Bahn-Tunnel angelegt oder Gebäudefundamente erstellt werden.

Es lag natürlich auf der Hand, die neue Technik für die allgemeine Klimatisierung von Wohn- und Arbeitsräumen zu nutzen. Es zeichnete sich ab, dass die neue Kältetechnik in den Warmgebieten der Erde ähnlich wirken könne wie die Heiztechnik in den Kaltgebieten. Es kam auch so. Linde wunderte sich jedoch, dass in Europa zu seiner Zeit keine Anstalten gemacht wurden, Klimaanlagen z.B. in Krankenhäusern oder Fabriken einzuführen. Die Ursache mag neben der Kostspieligkeit darin gelegen haben, dass die unbedingte Notwendigkeit nicht eingesehen wurde.

Winterkälte künstlich erzeugen - damit ließen sich nun auch Eisbahnen bauen, die auch im Sommer für den Eissport geöffnet wären. Die erste Eisfläche wurde tatsächlich schon 1882 in Frankfurt/M. durch Lindes Gesellschaft aufgebaut, 1896 folgte die zweite in Bayern. Ein enges Rohrsystem wird über einer Isolierschicht gegenüber dem Boden verlegt. Entweder wird die tiefgekühlte Sole durch die Rohre geleitet oder man bringt das Kältemittel in den Windungen direkt zum Verdampfen, damit es der Umgebung die Wärme entzieht. Dann besprüht man die Rohre mit Wasser, bis sie schließlich ganz in Eis eingebettet sind und eine vollkommen glatte Oberfläche bilden. Eine wunderbare Sache zum schwungvollen Eislaufen! Die Wärmeabstrahlung muss durch weiteren Wärmeentzug ausgeglichen werden.

Lindes Arbeitsmethode. In großer Klugheit dachte Linde niemals daran, die Maschinen und Wärmetauscher in den eigenen Werkstätten herzustellen. Seine Firma war (und ist) ein Ingenieurbüro, das sämtliche Anlagen entwarf, berechnete und konstruierte und die Einzelteile an Maschinenfabriken als Auftrag vergab, z.B. an Winterthur (später Sulzer) und Augsburg (später MAN). Dabei kamen nur Firmen infrage, die eine gleichmäßige Qualität der Geräte sicherstellten. Den Aufbau der Anlage, den Probelauf und die Inbetriebsetzung führte dann die Firma Linde durch. In technischer und wirtschaftlicher Hinsicht hatte das Unternehmen auf diese Weise großen Erfolg. Sein eherner Grundsatz war die genaue Vertrags- und Garantieerfüllung in absoluter Zuverlässigkeit, die keiner großen Reklame bedurfte, sondern durch die gelieferte Qualität ein Selbstläufer wurde.

Lindes große Erfindung: Flüssige Luft. Noch im 17. Jahrhundert glaubten die Menschen, dass nichts in der Luft sei. Daher die Bezeichnung "Gas" vom Griechischen "Chaos", d.h. der leere Raum. Erst allmählich begriff man, dass dieses "Gas" Materie ist, die verschiedene Aggregatzustände annehmen kann und dass der gasförmige Zustand nichts Unabänderliches ist. Es gelang einigen Forschern, wie Cailletet, Pictet und Olzsewski Luft zu verflüssigen mit zwei verschiedenen Tricks, sehr hohe Drücke oder stufenweise Hintereinanderschaltung von verschiedenen Kälteträgern. Sie erzeugten nur kleinste Mengen und völlig unrationell. Hier hatte nun Linde eine grundlegend andere Idee: Luft selbst als Kälteträger benutzen ohne andere Kältemittel einzuschalten. Bisher hatte er mit seinen Kältemaschinen verhältnismäßig geringe Kältegrade erreicht, die für Getränke- und Lebensmittelkühlung ausreichten. Aber rund minus 190°C ?

Das ging mit der bisherigen Methode nicht. Er schaute sich den geheimnisvollen Joule-Thomson-Effekt noch mal genauer an. Wenn man den Druck eines Gases um 1 bar absenkt, kommt es zu einer Abkühlung um 1/4 °C. das ist so wenig, dass die Wissenschaftler bisher an dieser Beobachtung achtlos vorüber gegangen waren. Aber kann man diese Abkühlung vergrößern? "Yes, we can", fand Linde heraus. Wenn der Kompressor die Luft von 1 bar auf 5 bar verdichtet und im Drosselventil von 5 bar auf 1 bar entspannt wird, kommt es zu einer Abkühlung von 1 °C. Wenn von 5 auf 25 bar verdichtet und anschließend von 25 auf 5 bar entspannt wird, beträgt die Abkühlung 5°C, weil die Druckabsenkung 20 bar beträgt. Verdichtet man von 25 auf 125 bar und entspannt dann wieder auf 25 bar, beträgt die Abkühlung schon 25°C, nämlich 1/4 °C pro bar Druckabsenkung. In allen Fällen macht der Kompressor aber dieselbe spezifische Arbeit erforderlich, weil er immer dasselbe Druckverhältnis erbringen muss. Senkt man die Anfangstemperatur, kommt es zu einer weiteren Entspannungsabkühlung.

Bild 10. Der Gegenstrom-Wärmetauscher: Ein 100m langes Rohr umgibt ein zweites Rohr kleineren Durchmessers. Er brachte die Luftverflüssigung zustande.

Das müsste doch der richtige Weg sein! Man müsste also die erste Abkühlung dazu nutzen, erstmal die vom Kompressor angesaugte Luft abzukühlen. Dazu erfand er einen Wärmetauscher, der im Gegenstrom arbeitet, bestehend aus zwei ineinandergeschachtelten Rohren, in dem die dem Kompressor zugeführte Luft bei jedem Umlauf weiter abgesenkt wurde und damit die Endtemperatur hinter dem Drosselventil. Dieses Doppelrohr war, spiralig aufgewickelt, 100 m lang! Auf diese Weise schaukelte sich die Luft zu immer tieferen Temperaturen hinab bis die Verfüssigung bei ca. -190°C erreicht war. Die weitere Kältewirkung führte jetzt zu einem kontinuierlichen Strom einer schönen, bläulich gefärbten Flüssigkeit, die sich mit einer stündlichen Ausbeute von 3 Litern in einen Blecheimer ergoss, wie er selbst schreibt. Zum ersten Mal war in solcher Größenordnung Luft mit solch einfachen Hilfsmitteln verflüssigt worden. Spätere Maschinen waren dann natürlich sehr viel leistungsfähiger. Linde blieb nicht auf dem einmal Erreichten stehen.

Bild 11. Gegenstand seines neuen Patentes von 1895: "Verfahren zur Verflüssigung atmosphärischer Luft oder anderer Gase".

Der unbedeutende Joule-Thomson-Effekt erschien in seiner Steigerung den Fachleuten so unwahrscheinlich, dass sie erst nach der Vollziehung daran glaubten. Linde führte die Versuche dem Kaiser und dem Reichskanzler in der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg vor und erhielt spontan einen Orden. Die Öffentlichkeit nahm wenig Notiz von den Luftverflüssigungsversuchen, das Gebiet der Kältetechnik war zu uninterressant. Was war nun die Nutzanwendung? Linde schrieb dazu: Es ist die Aufgabe des Naturwissenschaftlers, ohne Rücksicht auf Nutzanwendungen zu arbeiten. Der Ingenieur hat die Aufgabe, möglichst vielseitige Nutzanwendungen der Forschungsergebnisse auf den Weg zu bringen. Als wilde Spekulationen ins Kraut schossen, stellte er bescheiden klar, dass für ihn nur drei Anwendungen gelten: 1) Alle Labors können nun mit kleinen Luftverflüssigungsanlagen im Gebiet von minus 200°C experimentieren. 2) Die Zerlegung der verflüssigten Gasgemische bei der Wiederverdampfung in ihre Bestandteile. 3) Die Herstellung von Sprengstoff durch Mischung flüssiger Luft mit oxidierbaren Stoffen.

Er wurde von Prinzregent Luitpold von Bayern 1897 mit dem Verdienstorden der Bayerischen Krone ausgezeichnet und aufgrund der Ordensstatuten in den persönlichen Adelsstand erhoben. Er durfte sich jetzt Carl Ritter von Linde nennen.

Die Physiker und Chemiker haben also jetzt ein völlig neues Medium, mit dem sie bisher ungeahnte Grundlagenforschung betreiben können. Was aber hat die Luftverflüssigung für die Volkswirtschaft gebracht? Die besondere Bedeutung liegt in der Gewinnung von Sauerstoff und Stickstoff durch die Wiederverdampfung der neuen Flüssigkeit. Erst verflüssigen und dann wiederverdampfen? Ja, erst durch die Zerlegung in ihre Hauptbestandteile Sauerstoff und Stickstoff, die durch Verdampfen ermöglicht wird, ist die Luft zu einem überaus wertvollen Rohstoff geworden.

 

Bild 12. Die Zusammensetzung der Luft: Drei Hauptelemente O2, N2, Ar machen 99,96% aus, der Rest sind 20 Spurengase.

Bild 13. Schöne Briefmarken der archaischen Elemente, so wie die alten Griechen, unsere kulturellen Ahnen, sich die Welt vorstellten.

Luft ist das Gasgemisch der Erdatmosphäre und eines der archaischen Elemente der Vier-Elemente-Lehre der alten Griechen: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Die Ingenieurkunst des Carl von Linde hat uns Schätze aus der Atmosphäre erschlossen, ohne die die rasant gestiegene Weltbevölkerung heute nicht mehr auskommen könnte. Der Stickstoff aus der Luft, der Wasserstoff aus dem Wasser - beide Elemente in der Ammoniaksynthese des Fritz Haber vereint, hat als Kunstdünger das Überleben der Menschheit gesichert. Und der Sauerstoff für viele Fertigungsverfahren und für den Raketenantrieb ist unerlässlich.

Bild 14. Das Prinzip der fraktionierten Destillation am Beispiel eines flüssigen Wasser-Alkohol-Gemischs. Die Erwärmung des Gemischs bis zum Siedepunkt des Alkohols von 78°C treibt den jetzt dampfförmigen Alkohol aus, und er kann durch Kühlung mit Wasser im Gegenstrom wieder verflüssigt werden. Das Wasser würde erst bei weiterer Erwärmung auf 100°C verdampfen.

Bild 15. Die Luftzerlegeung im großindustriellen Maßstab. Die flüssige Luft wird mit einer Temperatur von 20°K (-253°C) in die Rektifikationskolonne (hintereinander geschaltete Destillationsstufen) geleitet. Von oben nach unten werden getrennt: Ne (bei 28°K), N2 (77°K), Ar (87°K), O2 (90°K), Kr (120°K), Xe (165°K), CO2 (196°K).

Die fraktionierte Destillation. Um großindustriellen Nutzen zu bringen, wird die verflüssigte Luft bis zum Siedepunkt eines Bestandteils (einer "Fraktion") wieder erhitzt. Stickstoff siedet bei -196°C, Sauerstoff bei -183°C. Wird nun flüssige Luft von -200°C erwärmt bis -196°C, kommt es zur Verdampfung des Stickstoffs allein, der dampfförmig abgeführt und wenn gewünscht wieder verflüssigt werden kann. Der Sauerstoff bleibt übrig. Das Verfahren ist sehr viel ausgefeilter als bei der einfachen Wasser-Alkohol-Trennung. Die Rektifikation in einer großen Kolonne ist ein thermisches Trennverfahren durch Hintereinanderschaltung vieler Destillationsschritte. Die Vorteile der Rektifikation: Kontinuierlicher Betrieb, höherer Trenneffekt, günstigere Energieausbeute im Vergleich zur Destillation.

Linde hat mit der Luftverflüssigung und Zerlegung in ihre Bestandteile ein Tor für unzählige Anwendungen aufgestoßen. Und das mit einem Rohstoff, der nichts kostet, der unbegrenzt zur Verfügung steht, in den "nur" die entsprechende Energie hineingesteckt werden muss, um das Verfahren in Gang zu bringen. Hierbei wird schon deutlich, dass es auf die Kosten dieser Energie ankommt, dass die eingesetzten Wärmetauscher und Kompressoren Geräte sein müssen, die die höchstmöglichen Wirkungsgrade erzielen, d.h. je Einheit der aufgewandten Energie ein Höchstmaß an Masseneinheit erzeugten Sauerstoffs oder Stickstoffs erbringen müssen. Diese Zielstellung war bei Linde in besten Händen. Wir erinnern uns, dass er schon als junger Mann während seiner Tätigkeit bei der Lokomotivfirma Krauß diesem Grundsatz folgte: Das Bestmögliche aus der Leistung im Verhältnis zum Aufwand herauszuholen, das nennt man auch Effizienz oder Wirkungsgrad.

Wozu dienen nun die Linde´schen "Schätze der Atmosphäre"? Der Sauerstoff. Er wird für industrielle Fertigungsverfahren, Verbrennungs-, Oxidations- und Heizprozesse, in der Medizin, in der  Luft- und Raumfahrt und in der Lebensmitteltechnik verwendet.

Reiner Sauerstoff oder sauerstoffangereicherte Luft dient bei der Herstellung von Roheisen und Stahl, sowie bei der Kupfer-Raffination zum Erreichen hoher Temperaturen und zum Frischen des Rohstahls, d. h. zum Entfernen unerwünschter Beimengungen hauptsächlich von Kohlenstoff. In chemischen Prozessen wird Sauerstoff zur Oxidation von verschiedenen Grundstoffen, z.B. von Ethylen und bei der Oxidation von Schweröl und Kohle verwendet. Benötigt wird Sauerstoff außerdem zur Erzeugung von Wasserstoff- und Synthesegas und zur Herstellung von Schwefel- und Salpetersäure. Weitere durch Oxidation mit Sauerstoff erzeugte wichtige Produkte sind Acetylen, Essigsäure und Chlor. Verschiedene Brenngase, z.B. Azetylen erzielen erst durch Mischen mit Sauerstoff ausreichend heiße und rußfreie Flammen zum Schweißen und Hartlöten oder Erschmelzen und Formbarmachen von Glas. Beim autogenen Schweißen werden die zu verbindenden Flächen durch örtliche Erhitzung zum Schmelzen gebracht und abschmelzendes Drahtmaterial zwischen die Flächen gegossen. Beim Brennschneiden von Eisen und Stahl  verbrennt das Eisen unter Sauerstoffeinwirkung so vehement, dass die benachbarten Teile von bis zu 60 cm Materialstärke sofort durch einen sauberen, scharfen Schnitt getrennt werden. Nach Aufheizen und Zünden erfolgt auch das Schneiden von Beton mit einer Sauerstofflanze. Sauerstoff dient auch als Oxidationsmittel in Brennstoffzellen und in der Halbleitertechnik. In der Raketentechnik wird flüssiger Sauerstoff als Oxidationsmittel verwendet, mit Wasserstoff in der Brennkammer vereinigt, verbrannt, und erzeugt durch Ausstoß unter hoher Geschwindigkeit den Raketenvortrieb. In der Umwelttechnik werden Abwässer durch Einleitung von Sauerstoff schneller durch Bakterien von organischen Schadstoffen und Giften befreit. Sauerstoff ist als Lebensmittelzusatzstoff zugelassen und wird - neben Stickstoff und Kohlendioxid als Treibgas, Packgas, Gas zum Aufschlagen von Sahne  verwendet. Bei Verletzungen der Lunge und bei Herzkrankheiten kann der Sauerstoffmangel in den Schlagadern und im Gewebe zu Schädigungen lebenswichtiger Organe führen. Daher wird Patienten in der Notfallmedizin häufig zusätzlicher Sauerstoff verabreicht. Bei künstlich beatmeten Patienten wird der Sauerstoff im Beatmungsgerät zugemischt. Patienten mit chronischem Sauerstoffmangel im Blut erhalten eine langfristige und tägliche Zufuhr von Sauerstoff, wodurch sich die Lebensqualität und die Überlebensdauer verbessert (Sauerstoff-Langzeittherapie). Die Atemmasken, die im Notfall über den Köpfen der Flugpassagiere herausfallen, werden mit Sauerstoffgas gespeist. Es regt zum Nachdenken an, dass der Sauerstoff durch tiefste Temperaturen aus der Luft gewonnen wird, und andererseits dazu dient, höchste Temperaturen zu erzeugen. Ist das nicht eine ausgleichende Gerechtigkeit in der Naturwissenschaft?

Der Stickstoff. Die Ammoniaksynthese nach dem Haber-Bosch-Verfahren ist die wichtigste Verwendung von Stickstoff und die Grundlage für künstlich hergestellten Stickstoffdünger, der für die Ernährung der Hälfte der Weltbevölkerung unerlässlich ist. Fritz Haber bekam dafür 1919 den Nobelpreis für Chemie. Heute werden 100 Millionen Tonnen Stickstoffdünger nach seinem Verfahren hergestellt. 1 Teil Stickstoff aus der Luft und 3 Teile Wasserstoff aus Methan ergeben 2 Teile Ammoniak; das Ganze in einem Reaktor bei 450°C und 300 bar Druck.

Sprengstoffe sind meistens Nitro-Verbindungen, d.h. NO2-Gruppen sind mit einem Kohlenstoffatom eines organischen Restes verbunden. Die Sauerstoffatome der Nitro-Verbindung können bei ausreichender Anregung mit den Kohlenstoff im selben Molekül exotherm (d.h. unter Wärmeabgabe) reagieren und somit aus dem Feststoff oder der Flüssigkeit, z.B. Nitroglycerin plötzlich ein Gas hoher Temperatur entstehen lassen, das sich mit großer Gewalt ausdehnt. Lindes entwickelter Sprengstoff "Oxyliquit" wirkte ähnlich wie Dynamit und wurde versuchsweise beim Bau des Simplontunnels 1899 verwendet, später auch im Bergbau. Stickstoff wird auch zur Füllung von Flugzeugreifen großer Flugzeuge verwendet. Der Stickstoff verhindert, dass Flugzeugreifen durch die große Hitzeentwicklung beim Aufsetzen während der Landung in Brand geraten können. Flüssiger Stickstoff wird als Kälteträger in der Kryotechnik eingesetzt. Da er verdampft, entzieht er dabei dem Kühlgut seine Verdampfungswärme und hält die Verdampfungstemperatur konstant bis er verdampft ist. Flüssiger Stickstoff wird auch dazu verwendet, bei sog. Hochtemperatursupraleitern den supraleitenden Zustand zu erzeugen. Bei diesem Zustand hat das Material unterhalb der sog. Sprungtemperatur keinen elektrischen Widerstand mehr und führt zu enormen Einsparungen an elektrischer Energie. Die höchste derzeitige Sprungtemperatur weist ein Kupferoxid-Material auf, sie beträgt 138°K = -135°C. Supraleitende Spulen und Kabel werden beim LHC des CERN in Genf verwendet. Flüssiger Stickstoff wird auch zur Lagerung biologischer und medizinischer Proben eingesetzt. Wie bereits oben beschrieben, wird flüssiger Stickstoff zur Bodenvereisung eingesetzt. Das ist ein Tiefbauverfahren, bei dem das Erdreich durch künstliches Gefrieren des Bodenwassers wasserundurchlässig gemacht wird. Der entstehende Frostkörper verleiht der Baugrube Stabilität und schützt sie vor Wasserzutritt bis diese Funktionen vom Bauwerk selbst übernommen werden können. So wird z.B. die Baugrube des eingestürzten Kölner historischen Archivs mit flüssigem Stickstoff vereist, der in einem großen Tank an der Baustelle aufbewahrt wird. Im Maschinenbau wird flüssiger Stickstoff dazu benutzt, Wellen mit Radscheiben zu verbinden. Dazu wird die Scheibe auf die tiefgekühlte (im Durchmesser geschrumpfte) Welle aufgeschoben; bei Temperaturausgleich entsteht dann ein Presssitz von vorherberechneter Stärke.

Das Edelgas Argon. 2 Milliarden Kubikmeter Argon, die pro Jahr ausschließlich durch Luftverflüssigung gewonnenen werden, benutzt man zum größten Teil als Schutzgas, weil es nur sehr schwer mit anderen Elementen reagiert: Beim Schweißen von hochlegierten Stählen, Titan, Wolfram und Aluminium und bei der Produktion von bestimmten Stahllegierungen, Titan und hochreinem Silizium. In elektronischen und elektrischen Anlagen wird es wegen seiner erstickenden Wirkung als Löschmittel eingesetzt, weiterhin als Schutzgas in der Gaschromatografie, in Gasentladungslampen und in Argon-Ionenlasern.

Lindes Beitrag zu unserer Lebensgrundlage. Die Verwendung von Medien, die in einem ständigen Kreislauf von Verflüssigung und Verdampfung Kälte schaffen und die Verwendung ausschließlich der Luft als eigenes Tieftemperatur-Kältemittel, das sich in seine Bestandteile aufspaltet - das sind seine beiden großartigen Erfindungen. Carl von Linde hat mit seinen systematischen Grundlagen für Kühlmaschinen und der Erschließung der "Schätze der Atmosphäre" ein unermessliches Neuland aufgetan. Als der wissenschaftlichen Forschung verpflichteter Professor hat er gleichzeitig als Ingenieur in der praktischen Anwendung der Kältetechnik viele Meilensteine gesetzt. Damit hat er einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung des technologisch-industriellen Grundstocks unserer Volkswirtschaft geleistet, von dem wir alle heute noch profitieren. So wie wir in unseren geografischen Breiten nicht ohne Wärme existieren können, so ist es ebenso unvorstellbar, ohne die von ihm erfundene künstliche Kälte zu leben. Ein Leben ohne die aus der Luft gewonnenen wichtigsten Gase Sauerstoff und Stickstoff? Das Überleben der Menschheit ist untrennbar mit beiden, von Lindes unermüdlichem Forschergeist "geschaffenen" Elementen verbunden. Die natürliche Kälte des Winters, des Eises aus dem Norden oder aus großen Höhen ist flüchtig, kann nicht gehalten werden wie etwa die Unterhaltung eines Feuers. Lindes künstliche Kälte - er hat der Natur mit ihren eigenen Naturgesetzen ein Schnippchen geschlagen.

Carl von Linde der Unternehmer. Linde war ein Ideenschmied und wurde sehr erfolgreich als Wissenschaftler, Hochschullehrer, Ingenieur und Unternehmer, der zahlreiche Werke gründete: 1879 Wiesbaden, 1895 British Refrigeration Company, London, 1902 Höllriegelskreuth bei München, 1907 Linde Airproducts Company Cleveland, Ohio; der auch viele Firmen übernahm: 1920 Maschinenfabrik Sürth, 1922 Heylandt Berlin, 1926 Kühlmöbelfabrik Mainz, 1929 Güldner Motorengesellschaft Aschaffenburg.

Linde, der Familienvater. Aus der 53-jährigen Ehe mit Helene Grimm gingen die Kinder Maria, Franziska, Friedrich, Anna, Richard und Elisabeth hervor. Zwei Töchter heirateten evangelische Pfarrer, die zwei Söhne und der Schwiegersohn Rudolf Wucherer übernahmen die Nachfolge in der Geschäftsführung des Unternehmens. Der Familienverband war stark und lebte, wenn immer möglich im engeren Umkreis. Nicht nur der lutherische Glaube, sondern auch die Musik spielte im Leben der Linde-Familie eine wichtige Rolle. So spielte Richard mit seinen fünf Kindern Kammermusik fast wie ein professionelles Ensemble. Carl Linde liebte das Reisen mit seiner Frau nach Holland, England und besonders nach Italien, das ihn immer wieder durch seine Kulturschätze anzog.

Linde, der Naturfreund. Seit seiner Hochzeitsreise 1866 war er von der Schönheit der Berchtesgadener Alpen so begeistert, dass er dort immer wieder seine Ferien verbrachte. Er war ein leidenschaftlicher Bergwanderer und Alpinist. 1885, als er schon ein gut situierter Fabrikherr war, entdeckte er auf dem Obersalzberg eine idyllisch gelegene Anhöhe mit Blick auf den Untersberg. Kurz entschlossen erwarb er das "Baumgartlehen", ganz in der Nähe des heutigen Dokumentationszentrums, und ließ es von dem Berliner Franz Schwechten, dem Architekten der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, mit einer Villa bebauen, in der er sich im Keller ein Versuchslabor einrichtete. Die Energie bezog er von einem Turbinen-Generatorsatz, angetrieben vom Wasser eines von ihm angelegten Teiches oberhalb der Villa.

Bild 16 und 17. Traumhafte Aussichten vom Carl-von-Lindeweg, ein Muss für jeden  Berchtesgaden-Besucher. Angelegt von Linde im Jahr 1895.

20 Jahre später ließ er noch auf dem unweit davon gelegenen Antenberglehen das Hotel "Antenberg" mit 50 Betten bauen; es hatte schon Telefon und elektrisches Licht, berühmte Prominente gaben sich dort ein Stelldichein. 1905 ließ er noch einen herrlichen Wanderweg für seine Gäste zum Hochlenzerlehen, das er auch erworben hatte, anlegen. Dieser insgesamt 6 km lange, in 1000m Höhe verlaufende Carl-von-Linde-Weg ist heute noch ein "Muss" für jeden Besucher des Obersalzberges. Man kann sich dort in schönster Natur von den Eindrücken erholen, die man in der Dokumentation über die monströsen Verbrechen des Nazi-Verbrecherkartells auf dem Obersalzberg gewonnen hat. Die Nazis hatten das Gelände nach 1933 zum zweiten Regierungssitz und Sperrgebiet ausgebaut und alle alten Bewohner unter Androhung von Gewalt von ihrem Jahrhunderte alten Besitz vertrieben. Auch Carls Sohn Richard bekam 1936 keine Fahrerlaubnis mehr zu seinem Grundstück und musste an die Nazis zwangsverkaufen.

Linde, der Christ. Der Pfarrerssohn war zeit seines Lebens in seinem Glauben fest verankert und ein treuer Anhänger der evangelischen Kirche. In Berchtesgaden, das fast zu einer zweiten Heimat für ihn geworden war, musste er nun die dunkelsten Seiten des Katholizismus erkennen, der in Salzburg und Berchtesgaden mit Beginn der Gegenreformation besonders grausam gegen die Protestanten gewütet hatte. Trotz eingeleiteter Strafmaßnahmen und Durchführung von "Glaubensprüfungen" hatte sich die Lehre Luthers in dem Gebiet stark ausgebreitet. In eigenmächtiger Umkehrung des Liebesgebotes Christi ging die katholische Kirche ab 1570 hart gegen die "Ketzer" vor. Evangelische Gottesdienste konnten nur im Geheimen und in kleinen Gruppen abgehalten werden. 1731 zwang man 20 000 Salzburger Protestanten zur Auswanderung. Die Hexenjagd ging auch in Berchtesgaden weiter, 2000 Bürger ließen sich nicht einschüchtern, bekannten sich zum evangelischen Glauben, verlangten vom Fürstpropst Cajetan Anton von Notthaft freie Religionsausübung, die ihnen verwehrt wurde. Bis zur erzwungenen Auswanderung 1733 nach Preußen und Hannover wurden sie enteignet, enterbt, mit Arbeitsverbot belegt, vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. In Berchtesgaden war aber der Protestantismus noch lange nicht ausgemerzt. Um heimliche illegale Auswanderung zu verhindern wurden sogar die Gebirgspässe gesperrt. Erst 1788 meldete ein pfarramtlicher Bericht: Irrglaube ausgerottet.

Bild 18. Die erste evangelische Kirche in Berchtesgaden, eingeweiht 1899, gefördert von Carl von Linde. Zeugnis dafür, dass die Intoleranz der Katholiken überwunden ist.

Noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es aufgrund dieser unheilvollen Geschichte in Berchtesgaden keine evangelische Kirche. Hier hakte nun Carl von Lindes Aktivität ein. Mit dem wachsenden Tourismus wurde der Bau einer evangelischen Kirche unausweichlich. Maßgeblich unterstützt von Carl von Linde wurde 1891 der Protestantische Kirchenbauverein gegründet. Zu ihrem Vorsitzenden wählten die 34 Gründungsmitglieder Carl von Linde. Er verhandelte mit dem Architekten, prüfte Kostenangebote, besprach Einzelheiten mit den Handwerkern und warb um Sponsoren, um die 100 000 Mark aufzubringen. Er selbst stiftete 30 000 Mark. 1899 fand die Einweihungsfeier der evangelischen  Christuskirche unter Anwesenheit des Kronprinzen Friedrich Wilhelm statt. Ein Deckengemählde erinnert noch an die grauenvolle Intoleranz der katholischen Kirche gegenüber Andersgläubigen. Heute ist das Verhältnis zwischen den beiden Konfessionen gut bis freundschaftlich.

Linde, der Förderer der Wissenschaft und Technik. Er war in den Leitungsgremien zahlreicher Institutionen tätig, um dem Ansehen der Naturwissenschaften in Deutschland Geltung zu verschaffen, sie standen ja lange im Schatten der viel höher geachteten Geisteswissenschaften. So war er im Vorstand des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), des Deutschen Kältevereins (DKV), Gründer des Instituts für technische Physik an der TH München, Mitglied in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, im Kuratorium der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und im Vorstand des Deutschen Museums München. Der Plan Oskar von Millers, hier die historische Entwicklung der Natur- und Technikwissenschaften darzustellen und der Nachwelt dauernd zu erhalten, löste sogleich eine riesige Begeisterung aus und lag auch genau in der Absicht Lindes, der sich mit einem namhaften Betrag an der Stiftung beteiligte. Als Student und junger Ingenieur wurde er von Franz Reuleaux und Albert Borsig gefördert, als gemachter Mann fördert er nun seinerseits junge Talente, darunter Rudolf Diesel, dem der ganz große Wurf gelang, eine neuartige Verbrennungskraftmaschine zu entwickeln, die bis heute den höchsten thermischen Wirkungsgrad aller Wärmekraftmaschinen aufweist. Diesel war lange Jahre als Eismaschineningenieur für Lindes Gesellschaft tätig. Linde fällte ein günstiges Urteil über Diesels neue Erfindung und ebnete ihm so den Weg, seine Maschine industriereif zu machen bei der Maschinenfabrik Augsburg und bei Friedrich Krupp.

Bild 19. Ehrung für den großen Erfinder, der ein Naturfreund war: Gedenkstein am Carl-von-Linde-Weg in Berchtesgaden.

Dank seines gesunden, naturverbundenen Lebensstils mit Wandern, Bergsteigen und Radfahren erreichte er ein hohes Lebensalter von 92 Jahren. Er starb 1934 und wurde auf dem Waldfriedhof in München beigesetzt. Seine Fähigkeiten und Eigenschaften sind bis heute ein Modell für Industrieführer, die ihr Unternehmen in eine erfolgreiche Zukunft führen wollen. Seine Neugier als Erfinder, sein Durchhaltevermögen bei der Umsetzung seiner Ideen in die Praxis, sein Talent, auf die Erfordernisse der Kunden einzugehen und ihren Wunsch nach Qualität und Zuverlässigkeit zu erfüllen sind alles zeitlose Garanten für Erfolg. Sein oberstes Prinzip: Wie können wir es besser machen?

Bei gasido/München können die Industriegase in Flaschen online bezogen werden.

 

 

Bild 20. Neben dem Gedenkstein eine Bank nach langer Wanderung: Stein und Bank spendiert von der Linde AG.

Rudolf Plank, Präsident des Deutschen Kältevereins schrieb: Linde repräsentierte eine seltene Verbindung von tiefer wissenschaftlicher Kenntnis, technischem Sachverstand und  hochentwickeltem Realitätssinn, die ihm eine wundervolle Harmonie zwischen Theorie und Praxis in der Frühphase der Kältetechnik erlaubte. Er war seiner Zeit voraus, erkannte aber die Grenzen und hatte Lösungen parat, wenn die Aufgabe in die Praxis umgesetzt werden konnte.

 

Was wurde aus Lindes Erfindungen?

 

Bildnachweis

Bild 1: Eigene Zeichnung, Foto von 1872, Urheberrecht abgelaufen, gemeinfrei. Bild 2, 3, 5, 6, 7: Eigene Zeichnungen. Bild 4: Eigenes Foto am 1./2.8.2011 im Deutschen Museum München, Gestattungsvertrag für Bildaufnahmen vom 12.7.2011. Bild 8, 11: Schutzrechte abgelaufen. Bild 9, 10: Aus G. Büscher "Festes Wasser, flüssige Luft", Wilhelm Limpert-Verlag, Berlin, 1942, Schutzrechte abgelaufen. Bild 12: Aus Wikipedia, ergänzt, CC-BY-SA Unported 3.0. Bild 13: Public domain. Bild 14: Fotos im Carl Bosch Museum Heidelberg, Sonderausstellung an der TU Berlin "Historischer Streifzug durch das chemische Labor", 6.9.2012. Bild 15: Urheber Mordechai1, CC-BY-SA Unported 3.0, aus Wikipedia. Bild 16, 17: Eigene Fotos Juli 2012. Bild 18: Aus der Homepage der Evang.-Lutherischen Kirchengemeinde Berchtesgaden. Bild 19, 20: Eigene Fotos Juli 2012.