Kernspaltung - benutzt als dritte Massenvernichtungswaffe des zweiten Weltkrieges. Es gab schon zwei Massenvernichtungswaffen im zweiten Weltkrieg: das Radar, erfunden von Christian Hülsmeyer, von den Briten benutzt, um ihre Bomberverbände zu deutschen Städten zu führen und die Weltraumrakete, von Wernher von Braun entwickelt, vom deutschen Militär gegen feindliche Städte eingesetzt. Zum Schluss des Krieges kam noch die schlimmste Waffe hinzu, die Atombombe, bei der die von Otto Hahn entdeckte Kernspaltung die Form einer unkontrollierten atomaren Kettenreaktion annimmt. Sie wurde von den Amerikanern auf zwei japanische Städte abgeworfen; allein in Hiroshima gab es nach der Detonation 141000 sofortige Todesopfer.

 

 

 

Bild 1. Der Chemiker Otto Hahn ca. 1912.

Erst musste der größte Krieg der Menschheit zu Ende gehen, bis alle drei großen deutschen Erfindungen zum Wohl und Fortschritt der Menschheit eingesetzt werden konnten: zur Verkehrsführung, zur Weltraumtechnologie und zur Energieerzeugung.

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild 2 und 2a. Hahn und Straßmann gelingt am 19. Dezember 1938 die erste Kernspaltung der Welt - auf diesem Labortisch im Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlem. Meitner lieferte aus Schweden die exakte Analyse der Ergebnisse. Dieser originale Tisch steht heute im Deutschen Museum München.

Bild 3. Das damalige Kaiser-Wilhelm-Institut - hier gelang die Jahrhundert-Entdeckung. Im Jahr 2010: "Otto-Hahn-Bau", dann im Jahr 2012 späte Würdigung von Lise Meitner, Umbenennung in " Hahn-Meitner-Bau".

 

Die sensationelle Entdeckung. Der Chemiker Otto Hahn (*1879 Frankfurt/M., †1968 Göttingen) hat das entscheidende Heureka-Erlebnis am 19.Dezember 1938 im Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlem. Auf einem rohen Holztisch von etwa einem Meter Länge wird eine der bedeutendsten und folgenschwersten Entdeckungen der Naturwissenschaften gemacht. Der 60-jährige Otto Hahn und sein junger Assistent Fritz Straßmann bestrahlen eine Uran235-Probe mit Neutronen, spalten damit den Atomkern in Barium und Krypton auf, zwei Elemente, die zusammen weniger Masse haben als das Ursprungsmaterial. Nach Albert Einsteins wichtigster Formel der Physik E=mc2, nach der Masse und Energie gleichwertig sind, wird der Massenunterschied zwischen Uran einerseits und Barium/Krypton andererseits als „radioaktive“ Strahlungsenergie abgegeben. Das „Streichholz“ ist eine Neutronenquelle, ein in einem runden Paraffinblock untergebrachtes Radium-Beryllium-Präparat. Eine sich lawinenartig fortpflanzende Reaktion war es jedoch nicht, das atomare „Feuer“ verlosch wieder, sobald die Neutronenquelle entfernt wurde.

 

Bild 4 und 5. Der Chemiker Otto Hahn spaltete das Uran-Atom, konnte aber das Ergebnis nicht verstehen. Die Physikerin Lise Meitner lieferte die richtige Erklärung aus ihrem schwedischen Exil. Beim Nobelpreis wurde sie übergangen.

 

Bild 6 und 7 (unten). Die Gedenktafeln der FU Berlin in der Thielallee. Späte Ehrung für Lise Meitner: Der Otto-Hahn-Bau wurde 2010 in Hahn-Meitner-Bau umbenannt.

Hahn und Straßmann hatten eine einfache aber intelligent ausgetüftelte Versuchsanordnung, sie maßen die Strahlung mit einem Geiger-Müller-Zählrohr, sie analysierten die  Zerfallsprodukte in vielen wiederholten Messreihen, aber sie konnten die Ergebnisse nicht deuten. Sie erwarteten ein Endprodukt, das im Periodensystem jenseits des Urans liegen müsste, ein „Trans-Uran“; denn das Neutron würde aufgrund seiner neutralen elektrischen Ladung leicht in den Uran-Kern eindringen, würde eingefangen und daraus ein schwereres Metall machen. Alle Analysen liefen auf das höchst unwahrscheinliche Barium hinaus. Sollte der Urankern wirklich in zwei Elemente mittlerer Atommasse zerplatzt sein? Das widersprach den festgefügten Meinungen der Kernphysik! Otto Hahn war ein studierter Chemiker und darin ein gewiefter Praktiker, nicht jedoch ein Theoretiker in der Physik! Und Kernspaltung ist nun mal Physik und nicht Chemie! Hilfe suchend wandte er sich daher brieflich an seine langjährige Mitarbeiterin, die erfahrene Physikerin Lise Meitner, mit der er 30 Jahre lang zusammen gearbeitet hatte. Ihr analytischer Geist und ihre ordnende Hand fehlten den beiden jetzt. Hahn arbeitete am 21. Dezember 1938 fieberhaft am Text der Veröffentlichung, ließ darin offen, ob das Spaltprodukt Radium oder Barium ist… weil er es nicht wusste. 

Lise Meitner war ein Opfer der Nazi-Verbrecher-Clique, die allen in Deutschland lebenden Juden den Krieg erklärt hatte, den kleinen Leuten als auch den Wissenschaftlern, von denen es nicht wenige gab. Und das, obwohl ihre Vorfahren seit Hunderten von Jahren in Deutschland gelebt hatten. Mit Hahns Hilfe hatte sie sich unter Lebensgefahr nach Schweden retten können, kurz vor dem Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen Laufbahn. Es war sehr bitter für sie, und sie hat es nie verwunden. Hahn ist unsicher und verzweifelt. Die schnelle Veröffentlichung (andere waren ihm dicht auf den Fersen!) in den „Naturwissenschaften“ vom 6. Januar beschrieb die sensationelle Entdeckung und machte damit Hahn zum Vater der Atomkernspaltung. Meitner bezeichnete später die höchst komplizierten Untersuchungen als Meisterstück radioaktiver Chemie. Aus dem gemessenen Massenverlust konnte die freigesetzte Energie berechnet werden. Sie kontrollierten es wieder und wieder; denn der Wert ist unglaublich: bei der Spaltung von einem Gramm Uran wird eine Energiemenge frei, zweieinhalbmillionen mal größer als bei Verbrennung von einem Gramm Steinkohle.

Bild 8. Nüchterne Worte für eine Jahrhundert-Entdeckung - am 19.Dezember 1938 die Entdeckung, am 6.Januar 1939 die schnelle Veröffentlichung  in den "Naturwissenschaften".

Es war jetzt klar: ein Atomkern des Schwermetalls Uran-235 fängt ein Neutron ein, wird damit kurzzeitig zum Isotop Uran-236, spaltet sich in das Edelgas Krypton-89 und das Erdalkali-Metall Barium-144 unter Abgabe dreier Neutronen und Gamma-Strahlung.

Die internationale Presse machte daraus eine riesige Atomexplosion: Otto Hahn und ein neues Physikphänomen in Berlin. Doch im Labor war es eine Reaktion im mikroskopischen Maßstab, ohne Rauchpilz, Blitz und Krach, nicht stark genug, eine Fliege von der Wand zu pusten. Schon Ende Januar wurden die Versuche in Amerika, Frankreich und Dänemark nachvollzogen und bestätigt.

Wie muss man die Kernspaltung lenken, damit alle Uran-Atome und nicht nur wenige zerplatzen? Es müsste möglich sein, wenn bei jedem atomaren Spaltprozess weitere Neutronen frei gesetzt werden, die dann neue Uran-Kerne spalten, wenn also eine Kettenreaktion in Gang kommt. Wenn ja, würde diese Reaktion zu kontrollieren sein oder vernichtend explosiv ablaufen? Diese Fragen stellten sich 1939 viele Physiker in der Welt. Haben sie eine immerwährende Energiequelle zum Antrieb von Maschinen gefunden oder eine fürchterliche Vernichtungswaffe im kommenden Krieg, der 1939 begann?

Bild 9. Trotz Biergenusses ein "magna cum laude" in der Doktorprüfung: Hahn mit 22 Jahren in Marburg.

Studium in Marburg. Hahn trinkt Bier. Wie war der Lebensweg Otto Hahns bis zu dieser Jahrhundert-Erfindung verlaufen? 1879 muss ein gutes Jahr gewesen sein: gleich drei deutsche Nobelpreisträger, Albert Einstein, Max von Laue und Otto Hahn wurden in diesem Jahr geboren. In der Frankfurter Handwerkerfamilie wurde Otto zu Bescheidenheit und Sparsamkeit erzogen. Auf der Oberrealschule interessierte er sich besonders für die Naturwissenschaften, fand aber die Art des Chemie- und Physikunterrichts äußerst langweilig. Seine chemischen Experimente in der häuslichen Waschküche fand er da schon wesentlich aufregender. Da war es nur natürlich, dass er mit 18 das Chemiestudium begann. Doch er war kein verbissener Streber, sondern er genoss das Studentenleben in vollen Zügen, so dass sein Vater von ihm sagte: mein Sohn ist in Marburg und trinkt Bier. Mit 22 besteht er seine Doktorprüfung, mit der Note „magna cum laude“. Sein Professor und Doktorvater Theodor Zincke erzog seine Studenten zur systematischen wissenschaftlichen Tätigkeit, exakten Arbeitsweise, schärfsten Beobachtung und strengsten Selbstkritik. Dafür war ihm Hahn zeitlebens dankbar. Hahn bekam 1904 eine Stelle in der chemischen Industrie angeboten, man verlangte aber Fremdsprachenkenntnisse. Da riet ihm Zincke, erst mal zu Professor Sir William Ramsay ans College London zu gehen. Hahn empfand es als große Ehre, als er auf Empfehlung Zinckes von dem weltberühmten Forscher eingeladen wurde.

In London und Montreal. England war damals ein Mekka der Naturwissenschaften, verbunden mit den Namen Boyle, Newton, Dalton, Faraday, Maxwell, Ramsay, Rutherford. Ramsay sagte zu Hahn: Sie werden über Radioaktivität arbeiten. Gerade weil Sie damit noch keine Erfahrung haben, können Sie ohne vorgefasste Meinung an diese mysteriösen Dinge herangehen. Radioaktivität nennt man die Eigenschaft bestimmter instabiler Atomkerne, sich in andere Atomkerne umzuwandeln, wobei Energie in Form von Strahlung frei wird. Diese rätselhafte physikalische Eigenschaft regte um 1900 die Fantasie der Wissenschaftler an und leitete eine neue Periode der Naturwissenschaften ein.

Bild 10 und 11. Grundlegende Definitionen rund um Atom und Element

Da gab es gleich zwei große Geheimnisse: ein Element verwandelt sich ohne äußere Einwirkung, in ein anderes, sind etwa die alten Träume der Alchimisten, der „Goldmacher“ wahr geworden? Und, was am meisten Kopfzerbrechen verursachte, ist die scheinbar unerschöpfliche Energie radioaktiver Elemente; Energie aus dem Nichts und ganz von selbst, gibt es etwa doch ein Perpetuum mobile? Wo ist die Quelle der starken Strahlung, das Leuchten im Dunkeln, die Schwärzung von Fotoplatten ohne Lichteinfall, die Aufwärmung der Umgebung?

  

Bilder 12, 13. Weitere Definitionen rund um Radioaktivität und Elemente-Zerfall.  Bild 14 (Grafik). Neue Alchemie oder Hexenküche der Natur? Die große Umwandlung der Elemente. Beispiel: Natürliche Zerfallsreihe Uran-Radium, vom Uran-238 zum Blei-206, über Protactinium, Thorium, Radium, Polonium, Wismut zum Blei. Aufwärts gerichtete Pfeile: Beta-Zerfall, abwärts gerichtete Pfeile: Alpha-Zerfall.

Bild 15. Das Geheimnis des Beta-Zerfalls: Aus einem Neutron mit 2 down-Quarks und 1 up-Quark wird ein Proton mit 2 up-Quarks und 1 down-Quark unter Aussendung eines Elektrons und eines Antineutrinos über ein vermittelndes W-Boson. N nimmt um eins ab, Z um eins zu. Die Massenzahl A bleibt gleich. Das neue Proton ist positiv elektrisch geladen, das entstehende Elektron negativ, also bleibt das neue Atom  elektrisch neutral.

Röntgen hatte 1895 die „X-Strahlen“ entdeckt, die das Gewebe durchdringen und seine Knochen sichtbar machen. Becquerel fand 1896 heraus, dass das Schwermetall Uran strahlte. Das Ehepaar Curie maß 1898 beim Element Thorium eine starke Strahlung und entdeckte die Strahler Polonium und Radium. Der britische Professor Ernest Rutherford, der in Montreal lehrte, brachte ab 1900 Ordnung in das unerklärliche Chaos. Er bewies, dass es drei verschiedene Arten radioaktiver Strahlen gibt, die er Alpha-, Beta- und Gamma-Strahlen nannte. alpha-Partikel werden z.B. aus dem Radiumatom mit 18000 km pro Sekunde herausgeschleudert, beta-Teilchen haben die unvorstellbare Geschwindigkeit von 200000 km/s und Gamma-Lichtquanten verlassen das Atom mit 300000 km/s. Rutherford wies nach, dass die Energieerzeugung bei einem radioaktiven Prozess millionenfach größer ist als bei Verbrennung von Kohle. Mit einem Kilogramm des Minerals Uranpecherz könne man einen großen Schnelldampfer über den Atlantik treiben. Wie aber sollte man diese fantastischen Erkenntnisse deuten? Warum, um alles in der Welt, senden zerfallende Stoffe solch eine starke Energie aus, ohne scheinbar nachzulassen?

 

Bild 16. Schon 1789 entdeckte der Berliner Chemiker Martin Klaproth Uranerz in Johanngeorgenstadt. Der Abbau des Erzes 1946 bis 1958 zum Vorteil Russlands führte zur Zerstörung der Stadt.

Hahns scharfe Beobachtungsgabe, Geschicklichkeit und Ausdauer brachten ihm an Ramsays Institut einen großen Erfolg ein: er entdeckte das bis dahin unbekannte Isotop Thorium-228, ein radioaktives Zerfallsprodukt des Elements Thorium-232; er nannte es „Radiothorium“. Das war eine gute Empfehlung für eine Bewerbung bei Rutherford in Montreal, dem „Radioaktivitäts-Papst“; Ramsay schrieb an ihn: Hahn ist ein prächtiger Kollege, bescheiden, hochbegabt, mit Radioaktivität vertraut, ich kann ihn bestens empfehlen, haben Sie eine Ecke für ihn im Labor? Rutherford sagte zu, 1905 schiffte sich Hahn nach Montreal ein. Hahn sagte später: es war die schönste Zeit meines Lebens an der McGill University, freundschaftlich war die Atmosphäre am Institut, sachlich und offen die Diskussionen, Rutherford eine faszinierende Persönlichkeit. Der wissenschaftliche Geist an der Uni, die zweckmäßige Ausstattung des Labors und Hahns Arbeitsethos ließen ihn weitere Nuklide entdecken: Radioactinium und Thorium C´. Er hatte einen besonderen Riecher für diese Art des Entdeckens.

Forschung in Berlin. 1906 geht es wieder nach Berlin zurück; er stürzte sich an der Berliner Universität in die weitere Erforschung der Radioaktivität, die hier ein völlig neues Gebiet darstellte. Mit seiner analytischen Arbeitmethodik  entdeckte er gleich zwei neue Nuklide in der Radium- und Actinium-Reihe, Ra228 und Ac228; er nannte sie Mesothorium. Sie eroberten sich sofort Anwendungsgebiete in der Medizin. Auf der Bunsentagung 1907 wurde Hahn angegriffen: die neuen Entdeckungen seien ja offensichtlich gar keine Elemente; denn sie passen nicht in das bewährte Ordnungschema des Periodensystems. Die Theorie kam erst 1913 durch Frederick Soddy, Mitarbeiter Rutherfords. Danach kann ein und dasselbe chemische Element aus mehreren Atomarten, Isotopen genannt, bestehen. Diese haben eine unterschiedliche Atommasse A, sind chemisch nicht voneinander zu trennen, haben aber verschiedene physikalische Eigenschaften. Mit der Einführung der Ordnungszahl Z war die Ordnung im Periodensystem wiederhergestellt. Z.B.: Uran-Reihe  mit Z=92=konstant, aber A= 222, 225 bis 240, 242. Der große Rutherford lieferte 1912 die physikalische Erklärung: er schickte Alpha-Teilchen mit 15 000 km/s auf eine Platinfolie; ein Teilchen von 8000 wurde abgelenkt oder zurück geworfen. Das konnte nur ein winziges, aber kompaktes Hindernis sein – eben der Kern des Atoms. Jetzt war Hahn Vieles klar: das Atom ist (fast) leer, in der Mitte sitzt eine geballte Ladung unvorstellbarer Dichte, das ist die Quelle der Mega-Energie der radioaktiven Strahlung!

Im selben Jahr, nach dem Abschluss einer Chemietagung in Stettin, machte der 33-Jährige Hahn während einer Dampferfahrt auf der Stettiner Bucht die Entdeckung seines Lebens, die ihn weit stärker beschäftigte als alle Radioelemente zusammen: er lernte Edith Junghans kennen, Studentin der Königlichen Kunstschule Berlin. Er war verliebt bis über beide Ohren und vergaß (aber nur für begrenzte Zeit) seine Forschungsergebnisse. Die Hochzeit fand 1913 in Stettin statt.

Hahn, nunmehr Privatdozent, leitete ab 1912 die selbständige Radium-Abteilung am neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem. Hahn führte dem Kaiser die gasförmige Strahlung des Mesothoriums vor; der war sehr beeindruckt vom geheimnisvollen Licht der Nebelschleier, die sich im abgedunkelten Raum über einen Leuchtschirm bewegten – und sagte großzügige Fördermittel zu.

Otto Hahns Überzeugung, dass die naturwissenschaftliche Forschung allzeit dem Fortschritt der Menschheit dient, erhielt einen schweren Schlag, als er im ersten Weltkrieg einem Regiment zugeteilt wurde, das Giftgasgranaten auf feindliche Linien verschoss. Und diese waren unter der Leitung seines Kollegen, des Direktors des Kaiser-Wilhelm-Instituts, Fritz Haber entwickelt worden und sollten den festgefahrenen Stellungskrieg schneller beenden. Hahn war erschüttert und tief beschämt, als er die armen Kerle unter der Wirkung dieser heimtückischen Waffe langsam sterben sah. Hahns kritische Beurteilung des Missbrauchs wissenschaftlicher Erkenntnisse wurden jedoch verdrängt durch die Wirkung einer pausenlosen Propaganda für die Treue gegenüber Kaiser und Vaterland.

Bild 17. Otto Hahn und Lise Meitner mit der übrigen Wissenschaftler-Elite 1920 in Berlin.

Nach dem Krieg baute Hahn, zusammen mit der Physikerin Lise Meitner, die Abteilung für Radiochemie am KWI weiter aus. Hahns Leistungen fanden zunehmende Anerkennung. Die strenge Arbeitsdisziplin am Institut und die gute Stimmung waren seiner weltoffenen Persönlichkeit geschuldet. Er verstand es, sein Institut in Dahlem zu einem Anziehungspunkt auch für ausländische Forscher zu machen, die hier ihre Kenntnisse vertiefen konnten. 1924 beantragten Haber, von Laue und Einstein seine Aufnahme in die Preußische Akademie der Wissenschaften, seine Forschung auf dem Gebiet der Radioaktivität habe zu nicht weniger als zehn neu entdeckten Elementen geführt. Hahn: ich bin beschämt, da ich diese Auszeichnung eigentlich einer Reihe von glücklichen Zufällen verdanke.

Auf der Bunsentagung in Münster im Mai 1932, zu der Hahn und Meitner eingeladen hatten, waren alle Atomforscher von Rang und Namen zugegen. Dort berichtete Sir Ernest Rutherford, dass man in seinem Cavendish-Labor in Cambridge, England den zweiten Kernbaustein, das „Neutron“ entdeckt hatte. Die Sensation: ein ladungsfreies Proton mit der Massenzahl 1 und der Kernladung 0! Jetzt war mit einem Schlag geklärt, warum bei gleicher Kernladung die Isotope desselben Elements verschieden schwer waren. Der Atomkern ist aus positiv geladenen Protonen und ungeladenen Neutronen zusammen gesetzt. Und jetzt hatte man in dem Neutron ein Geschoss gefunden, das, weil es keine elektrische Ladung hat, in das Atom eindringen, es umwandeln könnte. Es ging jetzt nicht mehr um das „ob“, sondern um das „wie“ der Experimente.

Die Diktatur greift nach der Wissenschaft. Jetzt senkte sich die dunkle Nacht des Nationalsozialismus über die deutsche Wissenschaft (und nicht nur über die). Schon 1933 wurden 2000 Wissenschaftler aufgrund eines wahnwitzigen „Arierparagrafen“ entlassen, von denen sich viele der Verfolgung durch Auswanderung entzogen. Das KWI verlor seine wissenschaftliche Unabhängigkeit, Wissenschaft wurde nach ideologischen Vorgaben der Nazis „gelenkt“; jüdische Wissenschaftler, wie Einstein und Haber wurden verleumdet und lächerlich gemacht; Planck, Heisenberg und von Laue, die sie verteidigten, wurden als „weiße Juden“ beschimpft. Relativitäts- und Quantentheorie wurden verworfen, weil sie keine „deutsche Physik“ darstellten.

Die internationale Atomphysiker-Gemeinschaft machte jetzt Jagd auf die Atomzertrümmerung – mittels Neutronen; denn das würde Freisetzung der Atomenergie bedeuten! 1937 waren sie noch der Meinung, die auf den Kern geschossenen Neutronen bringen nur ein neues Isotop des beschossenen Elements oder ein neues Nachbarelement hervor oder, ähnlich wie beim Beta-Zerfall, verwandle sich beim Beschuss des Urans das Neutron in ein Proton und führe dann zu einem „Transuran“ mit der Kernladungszahl 93 (so die Meinung des italienischen Wissenschaftlers Enrico Fermi). Des großen Rutherfords Meinung war wie ein unumstößlicher Lehrsatz: wer in der Umwandlung der Atome eine Energiequelle sieht, schwatzt Unsinn, eine praktische Ausnutzung der Atomenergie wird es niemals geben. Und Einstein stimmte dem zu. Das Team Hahn, Meitner und Straßmann machte sich ab 1935 an die eingehende Untersuchung dieser Uran-Prozesse.

Sie kamen in der Forschung gut voran… doch da trat 1938 das Unglaubliche ein: Lise Meitner war nach dem Anschluss ihrer Heimat Österreich plötzlich Deutsche und damit der Rassengesetzgebung unterworfen. Es hieß plötzlich anonym: die Jüdin gefährdet das Institut. Ihr Antrag auf einen Auslandspass wurde abgelehnt, mit ihrer Erfahrung und ihrer Einstellung könne sie gegen Deutschland wirken. Seit 30 Jahren war sie Hahns engste Mitarbeiterin und als hochbegabte und erfahrene Physikerin die ideale Ergänzung zu Hahns großem Wissen in der experimentellen Chemie. Sie war in allerhöchster Gefahr! Ihre Flucht gelang über Holland nach Stockholm.

 

Bild 18. Der Ablauf der Urankern-Spaltung, eine Quelle unvorstellbarer Energie. Bisher gab es nichts Vergleichbares.

Sie konnte nur von Ferne wehmütig mitansehen, wie ihr Lebenswerk ohne sie dem Höhepunkt entgegen strebte. Sie konnte dann brieflich die entscheidende Erklärung der dramatischen Messungen vom Dezember 1938 geben: ja, Ihr habt es geschafft, Ihr habt den Uran-Kern zertrümmert! Die beiden Bruchstücke sind Barium mit der Kernladungszahl 56 und das Edelgas Krypton mit der Kernladungszahl 36. Beide zusammen ergeben 92, die Kernladung von Uran. Aus dem Massenverlust, der bei der Spaltung eintritt, errechnete Meitner mit Einsteins Formel sogleich die freigewordene Energie für ein Atom Uran: sie beträgt schier unglaubliche 175 Mega-Elektronenvolt (175 MeV) pro Atom Uran-235. Zum Vergleich: ein Atom Kohlenstoff liefert bei seiner Verbrennung nur ein Hundertmillionstel dieser Energie! Uran, eine praktisch unversiegbare Energiequelle! Ein neues Zeitalter war geboren, das Atomzeitalter. Damit sind die Vorraussetzungen zur technischen Nutzung der Kernenergie, aber auch zur Herstellung von Atomwaffen gelegt.

 

Bilder 19-22. Wieso wird bei der Kernspaltung Energie freigesetzt? Beim Spalten entstehen zwei neue Elemente, Barium und Krypton, die beide zusammen einen größeren Massendefekt (größere Bindungsenergie) haben als Uran. Dieser Energie-Unterschied wird bei der Spaltung frei.

Wie muss man sich die Energieerzeugung bei der Kernspaltung vorstellen? Im Augenblick der Spaltung eines schweren Kerns in zwei mittlere Kerne formieren sich die Nukleonen neu: Bei der Bildung des Barium-Atoms beträgt die spontan abgegebene Bildungsenergie 8,3 MeV je Nukleon, und bei der Bildung des Krypton-Atoms ist die Bildungsenergie 8,7 MeV, jeweils deutlich mehr als bei Uran (s. Diagramm der Bindungsenergie). D.h. die beiden Kerne von Barium und Krypton haben bei ihrer Neubildung mehr Masse verloren als Uran bei seiner ursprünglichen Bildung. Der gemeinsame Massendefekt von Ba-144 + Kr-89 ist größer als bei U-235, und diese fehlende Masse m wurde bei der Spaltung in Energie E gemäß der Einsteinformel E=mc2 verwandelt. Danach ist Energie der Masse gleichwertig und über die Naturkonstante c2 (Lichtgeschwindigkeit zum Quadrat) direkt aus der Masse zu errechnen. Die Energie wird in Form von Gamma-Strahlen ausgesandt. In der Atomphysik kann zwar Masse verloren gehen, aber sie verwandelt sich dann in etwas Gleichwertiges, nämlich Energie.

Massendefekt, Bindungsenergie und Kernkraft. Dass sich Protonen und Neutronen zu Atomkernen zusammenfügen, lässt sich nur durch die Existenz anziehender Kräfte zwischen den Nukleonen erklären. Verantwortlich dafür sind die Gluonen (engl. to glue = kleben). Das sind Elementarteilchen, die als Austauschteilchen Träger der starken Wechselwirkung sind. Die Kraft, die aufgewandt wird, um die elektrischen Abstoßkräfte zwischen den positiv geladenen Protonen zu überwinden ist mit Arbeit, d.h. Energie verbunden, die dem Atomkern entzogen wird. Seine Energie ist damit geringer als die der einzelnen Nukleonen, aus denen er zusammen gesetzt ist. Man nennt diese Energieabnahme die Bindungsenergie. Nach der berühmten Gleichung von Einstein nimmt mit der Energie aber auch die Masse ab. Diese Abnahme nennt man den Massendefekt. Die starke Wechselwirkung geht von den Bestandteilen der Nukleonen, nämlich den Quarks, aus. Diese Kraft, die früher Kernkraft genannt wurde, hält die Quarks in einem Nukleon zusammen und wirkt auch noch zwischen den Quarks zweier benachbarter Nukleonen.

Bild 23. Kernfusion von Wasserstoff zu Helium. 17,6 MeV Energie wird für jedes neue Helium-Atom freigesetzt. Aus Wasserstoff wird Helium plus eine unvorstellbare Energiemenge.

Wenn ein schwerer Kern rechts vom Bildungsenergie-Maximum in zwei Kerne mittlerer Masse zerlegt wird, wird Energie freigesetzt (=Kernspaltung, englisch: nuclear fission). Wenn zwei leichte Kerne links vom Bildungsenergie-Maximum durch Verschmelzung eine höhere Nukleonenzahl erreichen, wird ebenfalls Energie freigesetzt (=Kernfusion, englisch: nuclear fusion).

Eine Energiefreisetzung erfolgt also immer in Richtung auf das Massendefekt-Maximum, also mit ansteigender Kurve. Die in Sternen ablaufende Kernfusion nutzt nicht das absolute Maximumm bei etwa A=60, sondern das lokale Maximum von Helium-4. Bei der Fusion von H-2 (Deuterium) und H-3 (Tritium) zum He-4 wird die enorme Energie von 17,6 MeV pro Helium-Atom frei. Bei der ersten Wasserstoffbombe am 1.November 1952 beim Bikini-Atoll, Code-Name "Ivy Mike", wurde von den Amerikanern die beschriebene Fusion des Wasserstoffs zu Helium angewandt. Die Explosion war 830 mal so stark wie die der Hiroshima-Bombe, der Pilz stieg bis in 45 km Höhe. Die Zündung erfolgte durch eine eingebaute Atombombe, die zunächst die Energie durch Kernspaltung zum Erreichen der notwendigen 50 Millionen Grad lieferte. Die unvorstellbar hohen Drücke und Temperaturen machen deutlich, dass der Fusionsreaktor, an dem mit viel Aufwand geforscht wird, noch einige Jahrzehnte bis zum Gelingen brauchen wird. Derzeit muss in die Versuchsreaktoren noch mehr Energie hineingesteckt werden als herauskommt.

Die Entstehung der Elemente - am Anfang war der Wasserstoff. Aus dem Diagramm der Bindungsenergie lässt sich auch ablesen, wie die Elemente auf unserer Erde einmal entstanden sind. Der Atomkern mit der kleinsten Bindungsenergie pro Nukleon ist der Wasserstoff, und der Atomkern mit der größten Bindungsenergie ist Fe-58, das Isotop des Eisens mit Z=26 Protonen und N=32 Neutronen. Vom Wasserstoff über das Helium bis einschließlich zum Eisen entstehen die Elemente durch Fusionsreaktionen in Sternen, bei denen Energie frei wird und die sich deswegen selbst aufrecht erhalten. Die Elemente mit einer Nukleonenzahl A>60 auf der Kurve abnehmender Bindungsenergie, z.B. das Gold, können nur bei der Explosion sterbender Riesensterne (so genannten Supernovae) oder beim Zusammenstoß von schweren Neutronensternen entstehen, weil diese Fusionen mehr Energie verbrauchen als sie freisetzen. Nur bei diesen Gewaltexzessen herrschen die dafür erforderlichen Bedingungen. Sämtliche Materie auf unserem schönen, blauen Planeten hat diese extrem gewaltsamen Umwandlungsprozesse in den Milliarden Jahren unserer Entstehungsgeschichte durchmachen müssen. We came a long way, sagen die Amerikaner.

Der Krieg beginnt. Was macht Deutschland mit der neuen Energie? Nach dem Beginn des Krieges, den Deutschland vom Zaun brach, gab es in der Welt die beklemmende Vorstellung, dass Hitler in den Besitz von Atomwaffen gelangen könnte. 200 Wissenschaftler wissen, dass Atombomben möglich sind, und Deutschland hat alle Voraussetzungen dazu. „Höchste Stellen“ in Berlin zeigen plötzlich lebhaftes Interesse. Auf einer Geheimkonferenz werden Hahn massive Vorwürfe gemacht, dass er seine Entdeckung brühwarm veröffentlicht habe. Das Uranproblem solle aber jetzt zügig bearbeitet, das Uranerz im böhmischen Joachimsthal sichergestellt und die Ausfuhr unterbunden werden. Die Kernforscher werden in einer Arbeitsgruppe zusammengefasst, um zielstrebig an einer „Uranmaschine“ (= Reaktor) zu arbeiten. Dazu war erforderlich: Anreicherung von Uran-235, das im natürlichen Uran-238 nur zu 0,7% enthalten ist, schweres Wasser D2O (Verbindung des Wasserstoff-Isotops Deuterium) zum Abbremsen der Neutronen, das im natürlichen Wasser H2O nur zu 0,015% enthalten und nur durch langwierige Elektrolyse zu gewinnen ist. Man übersah, dass dazu auch der reine Kohlenstoff Graphit geeignet ist. Das sollte schwer wiegende Konsequenzen nach sich ziehen. Die deutschen Truppen brachten 1940 beim Überfall auf Norwegen die einzige Schwerwasserfabrik der Welt in ihre Hände. Die Deutschen hatten für die militärisch orientierte Atomforschung (und nur um diese ging es!) jetzt einen alarmierenden Vorsprung: Wissenschaftler, Uranerz und schweres Wasser.

Was sollen die verantwortungsbewussten Wissenschaftler Hahn, Planck, von Weizsäcker, von Laue, Heisenberg, Houtermans, von Ardenne tun, um zu verhindern, dass dieses Machtmittel in die Hände der Nazis fällt? Verzögerungstaktik betreiben durch neue Ideen, die sich dann doch als undurchführbar erweisen? Wie soll man das Uran-235 anreichern, durch Zentrifugieren, Diffundieren oder auf elektromagnetischem Weg abtrennen? Von Weizsäcker schlug vor, auf die schwierige Anreicherung des seltenen Uran-235 zu verzichten, stattdessen Uran-238 durch Neutroneneinfang über ein Zwischenelement zu einem Transuran mit der Kernladung 94, d.h. Plutonium zu machen, das Verfahren hätte viele Vorzüge, es benötige aber weitere Grundlagenforschung (d.h. Verzögerung!). Fritz Houtermans ging in seiner Gewissensnot gar so weit, seinem früheren, in die USA emigrierten Kollegen Eugene Wigner ein Telegramm zu schicken mit der kurzen Aufforderung, die jener wohl verstand: Beeilt Euch, wir sind nahe dran! Zu ihm sagte Max von Laue: Herr Kollege, eine Erfindung, die man nicht machen will, macht man auch nicht. Das Heereswaffenamt verordnete, Forschungsvorhaben nur dann weiter zu verfolgen, wenn sie innerhalb von neun Monaten zur kriegsmäßigen Anwendung führten.

Einsteins historischer Brief löst das Manhattan-Projekt aus. Und noch einer war 1939 in einem Gewissenskonflikt: Albert Einstein, der 1933 von einer Forschungsreise in die USA nicht nach Deutschland zurückgekehrt war. Zusammen mit Leo Szilard und Eugene Wigner, die Deutschland verlassen mussten, unterzeichnete er einen Aufruf an Präsident Roosevelt: der Atombombenbau ist in naher Zukunft möglich, die Regierung solle die Versuchsarbeiten voranbringen, es sind Anzeichen da, dass Deutschland an der Bombe arbeitet. Einstein machte sich später Vorwürfe, durch den Brief das Manhattan-Projekt angeschoben zu haben. Doch seine Rechtfertigung war, dass Deutschland daran arbeitete.

Die Amerikaner klotzten ab 1940 richtig ran. Einsteins Brief wirkte als Initialzündung für das gigantische Atombombenprojekt mit dem Tarnnamen „Manhattan“, das Militärs unter Leitung des Generals Leslie R. Groves fest in die Hände nahmen. Er heuerte prominente „crackpots“ (verrückte Narren) an, wie er die Wissenschaftler nannte: Oppenheimer, Bethe, Fermi, Franck, Lawrence, Nier, Seaborg, Szilard, Teller, Wigner, Frisch, Peierls; in der Mehrzahl Juden aus Deutschland, Österreich, Ungarn, die wegen der Rassengesetze emigrieren mussten. In Oak Ridge baute man riesige Fabrikanlagen zur Uran-Anreicherung, in Hanford eine Großanlage zur Herstellung des Atomsprengstoffs Plutonium (künstliches Trans-Uran). Im Dezember 1942 zündete Enrico Fermi zum ersten Mal seinen Uranmeiler in Chicago; die Kettenreaktion lief, abgebremst durch Graphit; der Durchbruch war gelungen. Die Deutschen waren überholt. Das eigentliche Atombombenlabor lag in Los Alamos auf einem 2000 m hohen Plateau im Staat New Mexico. Der wissenschaftliche Leiter war Julius Robert Oppenheimer, Sohn deutscher Juden, die 1888 in die USA ausgewandert waren. Er hatte 1927 seine Doktorarbeit in Göttingen gemacht. Die Bombe, die für Deutschland bestimmt war, war erst 1945 fertig und wurde am 16. Juli, über zwei Monate nach dem deutschen Waffenstillstand, in White Sands, New Mexico zur Explosion gebracht. Oppenheimer erklärte später voller Reue: ich habe das Handwerk des Teufels getan.

Was machen die Deutschen? Mitte 1942 war die Stimmung unter den deutschen Militärs gereizt. Die Royal Air Force bombardierte deutsche Städte gnadenlos, die Superwaffe müsse nun endlich her. Hahn und Heisenberg: die Entwicklungsarbeiten lassen sich nicht innerhalb von neun Monaten bewältigen, man brauche noch drei Jahre. Hinhaltetaktik? Der Direktor des KWI für Chemie Otto Hahn verstand es meisterhaft, seine Forschungen als kriegswichtig, ja kriegsentscheidend darzustellen, während sein Team in Wahrheit systematisch mit der Abtrennung und Identifizierung der Umwandlungsprodukte des Urans beschäftigt war. Mit den Arbeiten seiner Physiker-Kollegen Heisenberg und Co., die sich mit dem Aufbau eines Atommeilers und der Kettenreaktion abmühten, hatte er nichts zu tun. 1943 begann das schwere Bombardement auf Berlin, so musste Hahns Institut nach Tailfingen, das KWI für Physik nach Hechingen verlegt werden. Denen entzog die Zerstörung der Schwerwasserfabrik in Norwegen und der Uranfabrik Degussa in Frankfurt weitgehend die Arbeitsgrundlage. Nur noch die Auer-Werke in Oranienburg produzierten das Uran-Metall. Die Physiker arbeiteten weiter, jetzt in einer Höhle in Haigerloch bei Hechingen. Im März 1945 war es soweit: der Reaktor wurde angefahren, die Uranwürfel wurden in das Gefäß abgesenkt, das letzte Schwerwasser eingefüllt, Heisenberg, von Laue, Gerlach, von Weizsäcker starrten auf die Messinstrumente… nichts passierte, der Meiler wurde nicht „kritisch“, zu wenig Uran und zu wenig Schwerwasser! Nach dem „Cruise Missile“ V1 und der Überschallrakete V2, die das Kriegsglück nicht wenden konnten, war jetzt auch die letzte Hoffnung der Nazi-Verbrecher auf die Superwaffe gescheitert.

Der Schlag der US-Army gegen die deutsche Atomforschung. Nun ging alles Schlag auf Schlag: Nr.1: im März wird die Uranfabrik in Oranienburg bei Berlin durch „Fliegende Festungen“ B-17 dem Erdboden gleich gemacht. Nr.2: die Amerikaner transportieren 1100 t Uranerz aus Staßfurt ab. Nr.3: Einnahme von Haigerloch und Hechingen durch ein US-Kommandounternehmen, Abtransport des Meilers, der, so war jetzt klar, niemals gelaufen war. Sicherstellung der Uranwürfel und des schweren Wassers. Nr.4: ein US-Stoßtrupp umstellt das Kaiser-Wilhelm-Institut in Tailfingen und verhaftet Heisenberg und Hahn und sichert alle schriftlichen Arbeitsunterlagen. Die Amerikaner hatten mit diesen Blitzaktionen erreicht, dass der Gegner nicht noch in letzter Minute Atomwaffen einsetzt und dass kein Material, Schrifttum und keine Wissenschaftler den anderen Alliierten in die Hände fallen.

Bild 24. Die Nagasaki-Bombe "Fat Man" am 9.8.1945. 100000 Tote auf einen Schlag. Hahn verfällt in tiefste Niedergeschlagenheit. Bild 25. Die Energie der Hiroshima-Bombe "Little Boy": 25 Millionen kWh, 140000 Tote.

Das Unfassbare: Hiroshima und Nagasaki. Die zehn Atomforscher Hahn, Heisenberg, Gerlach, von Laue, von Weizsäcker, Diebner, Harteck, Korsching, Wirtz, Bagge wurden als Kriegsgefangene auf den einsamen Landsitz Farmhall nahe Cambridge in England transportiert, ein Haus des britischen Geheimdienstes, wie sie erst später erfuhren. Am 6. August wurde angeordnet, dass sie alle die BBC-Nachrichten hören sollten. Da kommt dann die Schreckensmeldung, dass die Uran-235-Bombe „Little Boy“ über der japanischen Stadt Hiroshima in einem gigantischen Feuerball explodiert, einen 15 km hohen Rauchpilz empor schleudert. Auf der Stelle werden 140000 Menschen getötet durch eine enorme Druck- und Hitzewelle und einen nachfolgenden Feuersturm. Hahns Jahrhundert-Entdeckung war also tatsächlich zuerst zur Vernichtung der Menschen und nicht zu ihrem Wohl eingesetzt worden. Die deutschen Wissenschaftler sind wie vor den Kopf gestoßen, Hahn der Vater der Uranspaltung verfällt in tiefe Depression. Sie beginnen eine erregte Diskussion über den möglichen Sprengstoff, die physikalischen Hintergründe, die Folgen. Was sie an diesem Tag noch nicht wissen: alle Gespräche werden aufgezeichnet, weil die Alliierten wissen wollten, wie weit das deutsche Uranprojekt fortgeschritten war, welche Rolle die gefangenen Wissenschaftler spielten und wie ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Alliierten einzuschätzen war. Sie wurden danach aufgefordert, über ihre Tätigkeit während des Krieges eine wahrheitsgemäße Darstellung zu liefern. Es stand drin, und alle mussten unterschreiben: der Bau eines Reaktors stand kurz vor der Inbetriebnahme, aber es war ausgeschlossen, in Deutschland eine Atombombe zu bauen. Am 9.8.1945 wurde noch eine Bombe abgeworfen, auf Nagasaki: 100000Tote, es war eine Plutonium-239-Bombe, genannt „Fat Man“.

Nobelpreis, die ersten Atomkraftwerke. Die Wissenschaft habe nur dem Fortschritt der Menschheit zu dienen und nicht der Zerstörung von Leben. Diesen Satz wiederholte Hahn, wenn er, wie jetzt so oft, beschuldigt wurde, den Bau der Bombe erst ermöglicht, ja erfunden zu haben, Hitlers Atomexperte No.1 gewesen zu sein. In Deutschland hatten wir weder eine Urananreicherungs-Anlage, noch eine Plutonium-Fabrik. Es war uns unmöglich, eine Bombe zu bauen. Eine militärische Verwendung kam für mich nicht in Frage. Ich bin ein Mann der Wissenschaft und des Friedens, und der Gedanke, dass meine Arbeit zur Zerstörung benutzt werden könnte, hat mich oft gequält.

Im Januar 1946 durften die Wissenschaftler nach Deutschland, und zwar nach Göttingen, zurück kehren. Dann kam die Einladung an Otto Hahn nach Stockholm: Nobelpreis für Chemie 1944, für die Entdeckung der Kernspaltung des Urans, verliehen am 10. Dezember 1946. Die absolute Krönung seiner wissenschaftlichen Laufbahn, aus der Hand des schwedischen Königs. Es ist jedoch schwer zu verstehen, warum Lise Meitner leer ausgeht, sie hatte doch die richtigen Schlüsse aus den Messergebnissen gezogen! Hahn warnt in seinem Festvortrag vor dem Missbrauch der Atomenergie, vor Zerstörung all dessen, was die Menschen in Jahrtausenden geschaffen haben.

Wie geht es nach dem Krieg in Deutschland weiter? Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wird in Max-Planck-Gesellschaft umbenannt. Als ihr Präsident warnt Hahn unermüdlich vor den Gefahren der Atomwaffen angesichts der Wettrüstung der Supermächte im kalten Krieg, der die Welt in den Abgrund zu stürzen droht. Er unterzeichnet die „Mainauer Kundgebung“ von 1955, das „Göttinger Manifest“ der 18 deutschen Atomforscher von 1957, den Pauling-Appell von 1957, den 9235 Wissenschaftler aus 44 Nationen unterschreiben; diese Aufrufe waren gegen Atomwaffen und deren Erprobung gerichtet und glichen alle einem verzweifelten Aufruf an die Menschen, endlich zur Vernunft zurückzukehren und ihre Konflikte ohne Gewalt zu lösen.

Bilder 26-29. Ehrungen für das Genie Otto Hahn - Briefmarken und Münze. Straßen, Schulen, Institute wurden nach ihm benannt.

Bilder 30, 31. Otto Hahn - Entdecker, Nobelpreisträger. Der Chemiker erdachte die richtige Versuchsanordnung in Berlin, schoss Neutronen auf eine Uranprobe, bekam ein Ergebnis, das für ihn völlig unklar war, bat die Physikerin Lise Meitner in Stockholm um Hilfe. Sie beseitigte alle Unklarheiten. Ihre Antwort: Gratulation, du hast den Kern gespalten!

Er bekam zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen, die Liste ist lang. Besonders schätzte er die Ehrendoktorwürde der University of Cambridge; der „Observer“ in London nannte ihn eine Gestalt der Weltgeschichte. Man schätzte nicht nur den herausragenden Naturwissenschaftler, sondern auch den aufrichtigen Menschen, der sich von der Diktatur nicht verbiegen und auch später nicht den Mund verbieten ließ, wenn es darum ging, Fehlentwicklungen in der Politik anzuprangern.

Bild 32.  Schema eines Kernkraftwerks mit Druckwasserreaktor.

Bild 33. Das bleibt übrig vom Kernbrennstoff Uran: viel Uran (kann wieder aufgearbeitet werden), Transurane, besonders Plutonium und Spaltprodukte. Das sind z.T. stark strahlende Produkte, auch nach einem Kraftwerks-GAU.

Bild 34. Wohin mit den abgebrannten Brennstäben? Die Wiederaufarbeitung dient der Rückgewinnung von Radionukliden, Kernbrennstoffen und Plutonium sowie der Verringerung der Menge radioaktiven Abfalls. Anlagen gibt es in England, Frankreich, Russland, Japan, USA, Indien.  Abgebrannte Brennelemente enthalten ca. 95 % Uran und 1 % Plutonium. Von dem Uran können durch erneute Anreicherung 10 % und das Plutonium wiederverwendet, d.h. zu neuen Brennelementen verarbeitet werden. Die restlichen 90 % sind in einem Endlager zu entsorgen. Das radioaktive Gas Krypton wird an die Umwelt abgegeben. Plutonium kann auch zur Herstellung von Kernwaffen verwendet werden.

Die zivile Nutzung. Dann ging es mit Riesenschritten an die zivile Nutzung der Atomenergie, Otto Hahn sah es mit großer Freude. 1954 erstes Kraftwerk in Obninsk/Russland, 1956 Calder Hall/England, 1960 Kahl/Deutschland, usw. Heute sind weltweit 210 Kernkraftwerke am Netz mit 436 Reaktorblöcken (bis zur Abschaltung von 8 Blöcken in Deutschland). In Deutschland waren bis zur Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 12 mit zusammen 17 Reaktorblöcken in Betrieb mit je 800 bis 1500 MW Nennleistung; das ergab 23% der deutschen Stromerzeugung. Acht Reaktoren wurden abgeschaltet und bleiben abgeschaltet, wodurch der Anteil des deutschen Atomstroms auf 14% sank. Hinzu kommen 11 Forschungsreaktoren.

Dem großen Vorteil der Kernenergie, während des Betriebes nichts zum Treibhauseffekt beizutragen, steht eine Reihe von Nachteilen gegenüber, die in Deutschland den Ausschlag gegeben haben, aus der Kernenergie wieder auszusteigen: hoher Sicherheitsaufwand, noch kein vereinbartes Endlager für ausgebrannte Brennstäbe, Gefahr eines GAU (größter anzunehmender Unfall) nicht völlig ausgeschlossen.

Bild 35. Otto Hahn, der moderne Prometheus brachte den Menschen das atomare Feuer.

Was wird  Prometheus machen? Nach der alten griechischen Mythologie wird den Menschen vom Göttervater Zeus das Feuer versagt, weil sie damit den Göttern gleich würden. Der Halbgott Prometheus stahl es den Göttern, brachte es seinen Freunden, den Menschen, da sie es so dringend benötigten. Das Feuer des Holzes, der Kohle und des Öls erzeugte jene Kraft, die viel stärker ist als ihre und ihrer Haustiere Muskeln und auch stärker als die Kräfte des natürlichen, fließenden Wassers und der strömenden Winde. Und Prometheus brachte nun noch das atomare Feuer auf die Erde, das nochmals um ein Vielfaches stärker ist. Was aber, um der Götter Willen, wird geschehen, wenn Prometheus sich enttäuscht von den Menschen abwendet und ihnen alles Feuer wieder nimmt, weil sie sein göttliches Geschenk nicht nur zu ihrem Wohle, sondern auch zu ihrem Verderben benutzen?

Bildnachweis.

Bild 1: Aus HU-Berlin Sammlung. Bild 2: Eigene Fotos am 1./2.8.2011 im Deutschen Museum München, Gestattungsvertrag für Bildaufnahmen vom 12.7.2011. Bilder 3, 6, 7. Eigene Fotos 2010 und 2012. Bild 4, 5: Public domain. Bild 8, 9: Nutzungsrechte abgelaufen. Bilder 10-14 und 19-22 und 25: Eigene Zusammenstellungen, unterliegen dem Copyright. Bild 15, 17: Eigene Fotos, Lange Nacht d. Wissenschaften, Phys. Institut der TU Berlin, 2010. Bild 16: Lizenz Creative Commons CC-BY-SA-2.0-DE, Urheber Hejkal Wikipedia. Bild 18: GNU lizenzfreie Doku. Urheber Stefan-XP. Bild 23: Autor Wykis public domain, Wikipedia. Bild 24: Public domain, US Army. Bild 26-29: Public domain. Bild 30: Urheber nicht feststellbar. Bild 31: Website des Otto-Hahn-Gymnasiums Marktredwitz. Bild 32: GNU free Doc. Lic., Urheber San Jose Niabot, Wikipedia. Bild 33: Eigene Grafik nach Hebertweidner, Wikipedia public domain. Bild 34: Urheber prolineserver, gemeinfrei, Genehmigung PD, Wikipedia. Bild 35: Public domain. Alle eigenen Fotos, Diagramme, Grafiken etc. unterliegen dem Copyright.

 

Die Kernspaltung - Kurzinfo

Der Chemiker Otto Hahn (*1879 Frankfurt/M., †1968 Göttingen) hat das entscheidende Heureka-Erlebnis im Dezember 1938 im Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin-Dahlem. Auf einem rohen Holztisch wird eine der bedeutendsten und folgenschwersten Entdeckungen der Naturwissenschaften gemacht: Die Kernspaltung. Der 60-jährige Otto Hahn und sein junger Assistent Fritz Straßmann bestrahlen eine Uran235-Probe mit Neutronen, spalten damit den Atomkern in Barium und Krypton auf, zwei Elemente, die zusammen weniger Masse haben als das Ursprungsmaterial. Nach Einsteins wichtigster Formel der Physik E=mc2, nach der Masse und Energie gleichwertig sind, wird der Massenunterschied zwischen Uran einerseits und Barium/Krypton andererseits als „radioaktive“ Strahlungsenergie abgegeben.

Lise Meitner, die vor den Nazis unter Lebensgefahr nach Schweden flüchten musste, lieferte die schlüssige Analyse: ihr habt den Urankern zum Barium zertrümmert. Herzlichen Glückwunsch! Bei der Spaltung von einem Gramm Uran wird eine Energiemenge frei, zweieinhalbmillionen mal größer als bei Verbrennung von einem Gramm Steinkohle!

Hahn musste es schmerzlich erleben, wie seine Jahrhundert-Entdeckung zum Ende des zweiten Weltkrieges tatsächlich zuerst zur Vernichtung der Menschen in Hiroshima und Nagasaki eingesetzt wurde. Ab Mitte der 1950er ging es dann mit Riesenschritten an die zivile Nutzung der Atomenergie. Zuerst in Russland, dann in England, 1960 in Kahl/Deutschland. Bis zur Reaktorkatastrophe von Fukushima waren weltweit 210 Kernkraftwerke am Netz mit 436 Reaktorblöcken. In Deutschland waren es 12 mit zusammen 17 Reaktorblöcken mit je 800 bis 1500 MW Nennleistung; das waren 23% der deutschen Stromerzeugung. Nach der Abschaltung von 8 Reaktorblöcken sind es noch 14%.

 

Die Kernspaltung - die ganze Geschichte

 

Bild 2. Gedenkmarke zum 100. Geburtstag.

Wer war Konrad Zuse? War er Träumer oder Realist? Techniker oder Künstler? Bauingenieur oder Informatiker? Hard- oder Softwarespezialist? Bastler oder Firmenboss? Philosoph oder Erfinder? Wer war dieser Mann eigentlich, dem wir die Jahrhundert-Erfindung „Computer“ verdanken, eines Gerätes, das unser Leben stärker als alles andere verändert hat? Wenn wir mal ein bisschen in das Leben von Konrad Zuse (*Berlin 1910, †Hünfeld 1995) und in seine Erfindung hineinschauen, werden wir merken, dass er das alles war, Multitalent, Universalgenie und Humanist.

In Berlin in eine preußische Postbeamtenfamilie geboren, wuchs er in Ostpreußen und Schlesien auf. Auf dem Realgymnasium in Hoyerswerda schweiften seine Gedanken, wie er selbst berichtet, während des Unterrichts oft vom Thema ab und beschäftigten sich mit technischen Basteleien mit seinem heißgeliebten Stabilbaukasten; in seinem Kopf entwarf er Phantasiestädte, und unter seinen Händen entstanden heimliche Karikaturen der Mitschüler und Lehrer.

Bild 3. Mathematikunterricht, wie Konrad Zuse ihn sieht und zeichnet.

Schon mit 17 legte er das Abitur ab, und trotz seiner künstlerischen Ader begann er 1935 an der TH Berlin-Charlottenburg mit einem Maschinenbaustudium. Er wechselte nach kurzer Zeit zum Bauingenieurwesen, weil ihm das als eine ideale Kombination von Ingenieur und Künstler erschien. Aber auch hier konnten alle seine Erwartungen nicht erfüllt werden. Es müsste doch einen Weg geben, die umfangreichen, geisttötenden statischen Berechnungen zu automatisieren, oder? Nebenbei knobelte er an technischen Lösungen im Transport, in der Fotografie, bei Verkaufsautomaten … und fand seine geistige Heimat in einer Studentenverbindung, die die schönen Künste und das Schauspielern pflegte, weil die Studenten hier einen Ausgleich für den nüchternen Hochschulbetrieb fanden. Ihrem Humor waren keine Grenzen gesetzt, sie spielten ohne Manuskript Szenen aus dem Zeitgeschehen oder aus der Geschichte. Konrad spielte z.B. den Kaiser Augustus, der von Varus die Legionen wiederhaben wollte. Während einer wehrtechnischen Übung bei der Reichswehr sah er erstmals ein Richtgerät der Fliegerabwehrkanone und war mächtig beeindruckt von den zahlreichen Kurvenwalzen, Spindeln und Getrieben.

Bild 4. Der Rechenschieber. Bis zur Erfindung des Computers war er DAS Recheninstrument des Ingenieurs.

Bild 5. Konrad Zuse im Alter von 25.

Nach dem bestandenen Diplomingenieur-Examen 1935 fand er seine erste Anstellung bei den Henschel-Flugzeugwerken in Berlin-Schönefeld. Er musste dort zusammen mit Heerscharen von Kollegen zeitraubende, monotone statische Berechnungen von Flugzeugteilen durchführen, mit Rechenschiebern und handkurbelbetriebenen mechanischen Rechenmaschinen, die nur die vier Grundrechenarten und Wurzelziehen verarbeiteten. Diese Tätigkeit, für die er nach eigenen Worten zu faul war, gab Zuse den entscheidenden Impuls, hierfür eine neuartige, vollautomatische Rechenmaschine zu entwickeln. Er kündigte nach ein paar Monaten, um in der Wohnung seiner zunächst fassungslosen Eltern 1936 einen frei programmierbaren Rechner zu konstruieren. So entstand in Berlin-Kreuzberg in der Methfesselstraße 7 seine „Erfinderwerkstatt“. Sachkenntnis für die neue Aufgabe hatte er nicht, dafür aber eine fundierte technische Ausbildung, Kreativität und die geistige Bereitschaft zum Forschen und Erfinden.

 

 

 

Bild 6. Binärzahlen, Bits und Bytes - keine Geheimwissenschaft.

Der erste Computer der Welt ratterte in einem Wohnzimmer in Berlin-Kreuzberg. Wie nun anfangen? Vorhandene Rechen-Maschinen studieren? Nein, zu kompliziert und zeitraubend! Das muss einfacher gehen! Warum eigentlich das Zehner-Zahlensystem benutzen, nur weil wir zehn Finger haben? Das binäre, also nur aus den Ziffern 0 und 1 bestehende Zahlensystem, von dem deutschen Naturwissenschaftler Leibniz schon 1679 erfunden und von dem englischen Mathematiker Boole 1854 auch für logische Verknüpfungen angewandt, schien Zuse besonders geeignet zu sein; denn null oder falsch konnten durch einen offenen und eins oder richtig durch einen geschlossenen Schalter abgebildet werden. Das traditionelle Dezimal-System abzuschaffen, völlig neue Wege zu gehen, dazu gehörte schon eine gehörige Portion Mut. Nach anfänglicher Skepsis unterstützten ihn seine Eltern so gut sie konnten, auch seine Schwester. Studienfreunde halfen auch mit Geld oder arbeiteten praktisch mit beim Zusammenbasteln der Maschine. Sie hatten großes Vertrauen in seine Fantasie und seinen Erfindergeist, der geniale konstruktive Lösungen am laufenden Band produzierte. An erster Stelle war es Helmut Schreyer, der ihn dazu bewegen wollte, von den mechanischen Schaltelementen auf elektrische Röhren umzustellen. Aber Zuse hielt noch zwei Jahre an seiner mechanischen Lösung fest, weil er der Meinung war, mit Röhren baue man Radios und keine Rechenmaschinen. Aber der Weg führte ihn zwangsläufig von der Mechanik zur Elektromechanik und zur Elektronik.

Bild 7a,b,c. Gedenktafel in der Methfesselstraße, Berlin-Kreuzberg. Im Haus hinter dieser Mauer stand der erste Computer der Welt, nicht im Silicon Valley.

Bild 8. So sah er aus, der erste Computer in Zuses Wohnzimmer, Originalfoto der Z1.

1936-1938 entstand das Versuchsmodell einer elektrisch angetriebenen, rein mechanischen Rechenmaschine. Die Z1 funktionierte nicht fehlerfrei, aber das war bei der unzureichenden Präzision der Bauteile auch nicht verwunderlich, bearbeitete Zuse doch Tausende von Blechen, die er für den Bau von Z1 benötigte, mit einer kleinen elektrischen Laubsäge. Aus Kostengründen verzichtete er zunächst auf Fernmelderelais und entwickelte ein aus gestanzten Blechen bestehendes mechanisches Schaltglied, das z.B. in der offen-Stellung die Null und in der geschlossen-Stellung die Eins realisieren konnte.

Bild 9. Das Gleitkomma-System - einfach erklärt.

In seiner darüberhinaus entwickelten Theorie der Datenverarbeitung kam er zu der Erkenntnis, dass sich sämtliche Rechen- und Denkoperationen in Elemente auflösen lassen, und dazu benötigte er: Eingabe-, Speicher-, Steuer-, Rechen- und Ausgabewerk. Z1 bestand aus diesen Einheiten, der Rechenablauf war eine Folge einzelner Programmschritte, Ziffern wurden ins binäre System übersetzt, die Zahlendarstellung erfolgte im Gleitkomma-System (Floating Point System), und, man höre und staune, er erfand „Plankalkül“, die wohl erste Programmier-Sprache zur Formulierung schematisch-kombinativer Aufgaben. Er steuert seinen Computer durch ein Programm, das er auf ausgemusterte Kinofilmstreifen aus den Babelsberger Filmstudios stanzt. Ein Loch bedeutet „1“, kein Loch „0“. Jeder Befehl besteht aus 8 Bits: eines für Eingeben, zwei für Speichern, vier für Rechnen und eines für Ausgeben des Resultats.

Entscheidend erwies sich das Speicherproblem, d.h. Einspeichern und Wiederablesen von Zahlen. Bei den bis jetzt bekannten Speicherwerken wurden die Dezimalziffern durch viele Rädchen mit je 10 Positionen repräsentiert, die durch Drehen einer großen Trommel in eine Position gebracht wurden, die Werteaustausch mit dem Rechenwerk erlaubte. Beim binären System gab es jetzt Elemente mit nur 2 Stellungen, die nur rechtwinklig zueinander bewegt wurden. So konnten 1000 binär nummerierte, vom Wählwerk angesprochene Speicherzellen auf einem Volumen von ½ m3 untergebracht werden.

Bild 10. Z1, der Urgroßvater aller Computer. Wie rechnet er mit Blechen? Modelle im "Zuseum" Bautzen.

Bild 11. Die Architektur des Rechners Z1

Bild 12. 30000 gestapelte Blechplättchen. Nachbau der Z1 im Technikmuseum Berlin (1989). V.r.n.l.: Speicher, Datenbus, links von Mittelkonsole Rechenwerk, Konvertiereinheit, links oben Eingabe- und Ausgabe-Einheit

Damit ist die Z1 der erste Programm gesteuerte, binäre Gleitkommarechner der Welt, der schon die Boolesche Schaltungslogik verarbeiten kann (und, oder, Negation, Antivalenz).

Und er funktionierte! Er hatte keinen Bildschirm, eine Handkurbel für Proberechnungen, das Rechenprogramm war auf Lochstreifen gestanzt. Aufgebaut auf einer genialen Theorie, hergestellt nach einer ebenso genialen Konstruktion, bestehend aus gestapelten Scharen von Blechstreifen mit Stahlzylinderchen dazwischen, wie von Geisterhand gesteuert von Löchern, die mit einem Handlocher in ausgemustertes Filmzelluloid-Band gestanzt wurden, angetrieben von einem Staubsaugermotor, der mit zig Stangen die Bleche in zuckende Bewegung brachte. Die Maschine, groß wie ein Esstisch für acht Personen, spuckte unter schlimmem Gerassel exakte Lösungen für komplizierte Aufgaben aus. Zuses himmelstürmende Ideen waren real! Er hatte mit dieser Rüttelmaschine die Leibniz´sche Revolution eines vom Normalen abweichenden Zahlensystems in die Praxis umgesetzt, und das alles auf Kosten seiner Eltern in deren Wohnzimmer, nicht in einer kalifornischen Garage. Der Mann, der nicht rechnen wollte, erfindet die universale Rechenmaschine. Es war ein einsamer Entschluss, er sagte: Ich habe entschieden, ich muss! Die Bezeichnung "Tüftler" wird Zuse nicht gerecht, seine Vorstellung vom Rechnen geht klar darüber hinaus.

 

Bild 13. Wie rechnet die Z3 mit Relais? Erregerspule unter Strom: magnetischer Anker angezogen, Kontakt geschaltet. Erregerspule ohne Strom: Feder stellt Anker in Ausgangslage zurück, Kontakt geschaltet. Glühbirne brennt, wenn eines der Relais eingeschaltet ist (auf 1 steht).

Nach zwei Jahren Arbeit an der Z1 musste Konrad Zuse feststellen, dass die rein mechanischen Schaltelemente zu träge, zu ungenau und nicht flexibel genug waren. Aber die Erfahrung mit den gleich bleibenden Grundgesetzen der Schalttechnik und der mathematischen Logik half ihm beim Übergang zur Elektromechanik und zur Elektronik. Für den 1939 fertiggestellten Rechner Z2 ersetzte er das mechanische Rechenwerk durch 200 elektrische Relais, konnte damit das Gewicht halbieren und die Takt-Frequenz verzehnfachen. Die Vorführung überzeugte die Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt in Berlin-Adlershof, die daraufhin den Bau des Rechners Z3 teilfinanzierte. Der war 1941 fertig, hatte 600 elektromagnetische Relais im Rechenwerk, 1408 im Speicherwerk (1 Relais je Bit) und 300 im Wählwerk. Der erste voll funktionsfähige, vollautomatische, Programm gesteuerte, frei programmierbare Rechner der Welt mit binärer Gleitkommarechnung für 4 Grundrechenarten und Quadratwurzel, dezimale Ein-und Ausgabe, Mantisse 4 Ziffern, Exponent -8 bis +8, Addition 0,8 Sekunden,  Multiplikation 3 Sekunden.

Bild 14. Die Z3 im Deutschen Museum München, ein funktionsfähiger Nachbau von 1962.

Die Z3 sollte zur Berechnung der kritischen Schwingungsfrequenzen der Tragflügel von Jagdflugzeugen verwandt werden, wurde aber von den engstirnigen Offiziellen als Spielerei angesehen.

1942 begann die Arbeit an der Z4, jetzt in seiner eigenen Firma „Ingenieurbüro und Apparatebau Berlin“, erst mit drei, dann mit zwanzig tatkräftigen, begeisterten Mitarbeitern. Sie war die einzige, die in Deutschland Rechengeräte entwickeln durfte. „Zuse Ingenieurbüro und Apparatebau Berlin“, erst mit drei, dann mit zwanzig tatkräftigen, begeisterten Mitarbeitern. Sie war die einzige, die in Deutschland Rechengeräte entwickeln durfte. Sie waren schon stark vom Bombenkrieg behindert. Bei einem Bombentreffer konnte sich Zuse gerade noch unter einen Türrahmen retten, als hinter ihm das Treppenhaus in die Tiefe stürzte. Die Z4 musste dreimal innerhalb Berlins ihren Platz wechseln. Die Fehlersuche nahm den größten Teil der Energie der Erfinder in Anspruch; Zähigkeit und gute Nerven waren mehr gefragt als Intelligenz, und kurz vor dem Erfolg musste man schon wieder den Luftschutzkeller aufsuchen.

Bombenhagel und Flucht nach Bayern, mit dem Computer.

Nach dem Krieg erfuhr Zuse, dass Professor Aiken von der Harvard-Universität 1944 den „sequence controlled calculator“ Mark I entwickelt hatte. 1947 konnte Zuse bei einem Besuch in den USA diesen Rechner besichtigen und feststellen, dass der Mark I noch mit dem Dezimalsystem und mit einer veralteten Schaltalgebra arbeitete. Zuse hatte also 1944 einen Entwicklungsvorsprung, in dem ein gewaltiger wirtschaftlicher Nutzen hätte liegen können, wenn man damals nicht ausschließlich militärische Ziele im Auge gehabt hätte. Noch kurz vor Kriegsende konnte die Z4, jetzt im Keller in der Oranienstraße 6, funktionsfähig fertig gestellt werden. Die Z1, die Z2 und die Z3 waren inzwischen unter Schutt und Trümmern versunken, auch alle Konstruktionspläne und Zeichnungen. Um der Z4 dieses Schicksal zu ersparen, lautete die Parole jetzt: die V4 muss aus Berlin in Sicherheit gebracht werden! Die Bezeichnung stand für Versuchsmodell 4, und der Gleichklang dieser Abkürzung mit der für die „Wunderwaffen“ V1 und V2 hat den Computer auf der 4-wöchigen Flucht ins Allgäu gerettet.

Zunächst wurden in der Aerodynamischen Versuchsanstalt Göttingen die ersten Programm gesteuerten Berechnungen unter den Augen des berühmten Professors der Aerodynamik Ludwig Prandtl durchgeführt. Als der Kanonendonner näher rückte, erhielten sie den Befehl, die V4 in die unterirdische Rüstungsfabrik im Kohnstein bei Nordhausen zu bringen. Konrad Zuse stand dort zum ersten Mal der unmenschlichen Grausamkeit des Dritten Reiches gegenüber; der Anblick von 20 000 KZ-Häftlingen, die unter unvorstellbaren Bedingungen in den Kilometer langen Stollen des Kohnstein zu Tode geschunden wurden, erschütterte ihn derart, dass er sich sagte: überall hin, nur nicht hierher! Ein Militärlastwagen mit 1000 Liter Dieselöl, besorgt von der Peenemünder Raketengruppe unter Wernher von Braun, brachte die Computergruppe ins Allgäu, schließlich handelte es sich um die V4! Für die V2- und die V4-Mannschaft gab es in den letzten Kriegstagen noch einmal äußerste Gefahr: es gab einen allerhöchsten Befehl, alle Wissenschaftler und Ingenieure zu erschießen, um den Aliierten kein deutsches Know-How in die Hände zu liefern. Es gelang in allerletzter Minute, den Führer der fanatischen SS-Einheit von dieser Wahnsinnstat abzuhalten.

Bild 15. Zuse, der Künstler - Hinterstein im Allgäu. Mit Holzschnitten, wie diesen ernährte er seine Familie nach dem Krieg.

Von Braun, dem Zuse den Computer vorstellte, hatte nicht den Weitblick, sich vorzustellen, welche Schlüsselstellung der Computer eines Tages in der Weltraumfahrt einnehmen würde. So fand es Zuse richtiger, sich in dem kleinen Alpendorf Hinterstein selbständig zu machen. Noch einmal gab es einen großen Schrecken, als sich das Gerücht verbreitete, in Hinterstein sei die Vergeltungswaffe V4 versteckt, die jederzeit explodieren könne. Englische Offiziere inspizierten das Gerät in einer Garage und fuhren sichtlich enttäuscht wieder ab.

Neuanfang und Erfolge nach dem Krieg.

Nach diesen dramatischen Ereignissen hieß es, sich wieder auf die Entwicklungsarbeit zu konzentrieren. Nach der totalen erzwungenen Isolierung der deutschen Wissenschaftler im dritten Reich konnten sie jetzt Genaueres über den Stand von Wissenschaft und Technik außerhalb Deutschlands erfahren. Konrad Zuse zog schon 1945 Bilanz in der Computer-Technologie: Seine Geräte Z3, Z4 und das Prozess-Steuerungsgerät S2 hatten einen Vorsprung gegenüber den amerikanischen Rechenmaschinen Mark, Eniac und Bell, die entweder mit dem ungeeigneten dezimalem Festkommasystem rechneten oder einen viel zu hohen Konstruktions- und Bauaufwand erforderten. Obwohl die Industrie auch in USA gegenüber den neuen Supermaschinen sehr zurückhaltend war, wurde aber die Entwicklung dort von wissenschaftlichen Instituten gefördert, so dass auf breiter Basis und mit voller Kraft weiter gebaut werden konnte. So ging der Vorsprung in Deutschland in den Nachkriegsjahren weitgehend verloren, zumal bis zur Währungsreform 1948 die Entwicklungsarbeit nahezu völlig ruhte. Und, man mag es kaum glauben, das deutsche Patentamt teilte Zuse 1967, also 26 Jahre nach der Anmeldung, mit, dass seine Programm gesteuerte Rechenmaschine wegen mangelnder Erfindungshöhe nicht patentiert werden kann. Die größte Erfindung des Jahrhunderts! Ein unverständliches, krasses Fehlurteil, das seine Arbeit erschwerte, ihm die Anerkennung versagte und mit dazu beitrug, seiner Firma den Todesstoß zu versetzen. Bei einem Besuch in der Harvard-Universität in USA führte Prof. Aiken Herrn Zuse seine Geräte vor, zeigte aber kein Interesse an den deutschen Entwicklungen und war im übrigen der Meinung, der Computer sei eine amerikanische Erfindung. Mr. Zuse, zeigen Sie mir Ihre Computer! Wie sollte Zuse das können? Waren doch seine Geräte Z1, Z2 und Z3 dem Bombenhagel in Berlin zum Opfer gefallen, einschließlich aller Konstruktions-Zeichnungen, und Fotos gab es keine! Aikens Rechner lief erst 1944, drei Jahre später als Zuses Z3.

Bild 16. Konrad Zuse 1950. Seine Z4 läuft an der TH Zürich als Arbeitspferd.

1948 gelang es ihm, für sein „Zuse-Ingenieurbüro in Hopferau bei Füssen“, wohin er umgezogen war, zwei Kunden an Land zu ziehen, einmal die Firma Remington-Rand aus USA, die ihm einen Entwicklungsauftrag für einen speziellen Zusatzrechner für Lochkartengeräte erteilte und zum anderen die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, die seine schadhaft gewordene und überholte Z4 gegen gutes Geld mietete, nachdem Zuse den Test bestanden hatte, nämlich eine ihm diktierte Differentialgleichung zu programmieren und mit der Maschine auf Anhieb zu lösen. Fünf Jahre lang bis 1955 erwies sich die Z4 als das Arbeitspferd an der ETH; sie arbeitete so zuverlässig, dass man sie nachts unbewacht durchlaufen ließ. Beide Aufträge verschafften ihm die Basis für einen Neuaufbau der Firma, und so konnte er 1949 nach Hünfeld in Hessen umziehen und dort die „Zuse KG“ ins Leben rufen.

Noch Mitte der 1950er hatte die große deutsche Elektroindustrie nicht erkannt, welche enormen Möglichkeiten in elektronischen Rechengeräten steckten – mit schlimmen Folgen für die gesamte deutsche Wirtschaft; denn die Entwicklung und Herstellung von Computern erwies sich als die wichtigste Industrie der Welt. So bauten die Hochschulinstitute ihre eigenen Computer, so in München, Göttingen, Darmstadt und Dresden. Das Verhältnis der Industrie zu dem von den Journalisten geprägten Schlagwort „Elektronengehirn“ war durch Desinteresse und mangelnden Geschäftssinn gekennzeichnet. Zuses ganze Energie galt seiner Firma; seine Haupttätigkeit war es, Märkte zu erschließen. Er machte Vorschläge, seine Maschinen für Betriebsführung einzusetzen, Flugbuchungen und Webstuhlsteuerungen zu automatisieren, mathematische Modelle für anthropologische und medizinische Analysen zu erstellen – sie wurden alle in Bausch und Bogen abgelehnt mit der Begründung: nicht durchführbar, unpraktikabel, auf den Menschen keine Rücksicht nehmend, usw. usw. Alles Argumente der verpassten Gelegenheiten; was hätten die Deutschen mit Zuses Jahrhundert-Erfindung alles machen können! Aber er hatte auch schöne Erfolge, z.B. bei Leitz in Wetzlar. Die Optimierung eines einzigen Objektivs erforderte Tausende von Berechnungen des Strahlendurchgangs, eine Mammutaufgabe für ein Dutzend Techniker für mehrere Jahre, die Tischrechenmaschinen, Rechenschieber und Logarithmen-Tafeln benutzten. Die Z5 brachte da einen riesigen Fortschritt. Auch die Folgemodelle Z11, Z22 und Z23 fanden guten Anklang bei der optischen Industrie Mitteleuropas. Die sah aber im Computer nur einen Rechenknecht für den Strahlengang, sie machte nicht den zweiten Schritt der direkten Optimierung der Linsenform durch den Computer und büßte so ihren Vorsprung gegenüber der ausländischen Konkurrenz ein.

 Bild 17. Die Steuerung des Computers von 1936 bis heute: Mechanische SchaltgliederRelaisElektronenröhrenTransistorenintegrierte Schaltkreise.

 

Die Z22 markiert 1958 den Übergang zur Elektronen-Röhre, bei der der von einer Kathode ausgehende Strahl von Elektronen zur Steuerung der Ja-Nein-Befehle benutzt wird. Damit wurde die Multiplikation 200mal schneller als mit elektromagnetischen Relais. Die Z22 war ein großer finanzieller Erfolg für die Firma. Es wurde eine Serie von 56 Rechnern ausgeliefert, wie z.B. an die Betriebswirtschaft, Bautechnik, Elektrotechnik, Ballistik, Vermessungstechnik, Optik, Aerodynamik, den Maschinenbau, Kernreaktorbau, Bergbau. 1961kam dann mit der Z23 schon der Übergang auf die Transistortechnik, bei der die Elektronen vom Emitter zum Kollektor durch ein extrem dünnes Halbleiterkristall geschickt und von einem Strom durch ein eingebettetes Metallblech gesteuert werden.

Finanzielle Schwierigkeiten und Pleite.

1962 kam dann, was kommen musste. Im Gegensatz zur amerikanischen Firma IBM, deren Computerentwicklung vom Staat mitfinanziert wird, muss die Firma Zuse die Entwicklungskosten durch den Verkauf ihrer eigenen Rechner aufbringen, staatliche Förderung gibt es so gut wie nicht. Der Kostenaufwand für die Programmierung, also für die Software, wurde inzwischen so hoch wie die der Geräte, also der Hardware. Die Software umfasst ja nicht nur die Anwenderprogramme, sondern auch die interne Organisation des Computers, das Betriebssystem. Die Verzögerung und dann Ablehnung der Patenterteilung ließen die erhofften Lizenzeinnahmen ausfallen. Die Vertriebskosten wurden immer höher und der Konkurrenzdruck von IBM immer größer. Das Ausscheiden und die Auszahlung zweier Teilhaber war ein harter Schlag für die Firma, und zu allem Überfluss gab es Schwierigkeiten mit der Z25, deren (zugekaufte) neue Transistor-Typen Kinderkrankheiten aufwiesen. Ja, für alle diese Schwierigkeiten fehlte der Firma die notwendige Eigenkapital-Reserve, und für Bankkredite konnte Herr Zuse keine Sicherheiten bieten. Er musste sich den Vorwurf gefallen lassen, schwere Management-Fehler begangen zu haben. Vielleicht ist es ja so, dass ein Vollblut-Ingenieur immer nur ein Halbblut-Kaufmann sein kann, der von finanziellen Dingen wenig Ahnung hat. Jeder kann verstehen, wie unendlich schwer es ihm fallen musste, die Fabrik, die sein Lebenswerk, den Groß-Computer,  produziert hatte, und zwar 250 davon, zu verkaufen. Über zwei Stationen hinweg landete die Firma 1967 in den Armen des Großkonzerns Siemens, der aber das ruhmreiche Erbe des Erfinders und Pioniers im Kampf gegen US-Konzerne und auch später beim Siegeszug des PC nicht zu nutzen verstand. Hier gibt es, wie in vielen Großfirmen, eine Überheblichkeit gegenüber einer fremden Idee; Zuses Wundermaschine ist ja nur zugekauft und nicht im eigenen Haus erfunden worden, kann daher nicht funktionieren! Man verteidigt eben seine Erbhöfe. Schade! Deutschland hat wieder mal eine große Chance verpasst und musste daher Anderen das Feld überlassen.

Bild 18. Konrad Zuse in den 1980ern.  Bild 19. Seine Hochhäuser - Ähnlichkeiten zur Z1 sind kein Zufall.

1969 scheidet er aus der Zuse KG. aus … und ist wieder frei für die Wissenschaft, für Ehrungen, für einen Blick in die Zukunft und für seine geliebte Malerei. Frei auch, über seine Erfolge und über sein Scheitern nachzudenken. Im Rückblick bezeichnet er sich als weltberühmten Unbekannten, der viel unbekannter als Karajan ist und der doch unser aller Leben viel stärker verändert hat, der als verkannter Weltverbesserer die Mitmenschen von der Qual des stumpfsinnigen Rechnens befreit hat – aus Faulheit. Von der Uni Göttingen wird er zum Professor berufen, erhält insgesamt vierzehn Doktortitel ehrenhalber, bekommt den Werner-von-Siemens-Ring, die Dieselmedaille in Gold, das Große Bundesverdienstkreuz, den Bayerischen Maximiliansorden, usw. usw. Baut für das Technikmuseum Berlin die Z1 in allen Einzelheiten nach. Zwei Schulen und sechs Straßen in deutschen Städten sind nach ihm benannt (warum eigentlich in Berlin nicht, ist Karajan wichtiger als Zuse?). 1999 erst wurde ihm auch in den USA die Anerkennung zuteil, die er verdiente: vier jahre nach seinem Tod wurde er "Posthumous Fellow, Computer History Museum, Stanford University" in Kalifornien: Inventor of world´s first general-purpose, program-controlled, electromechanical computer.

Der Computer heute - ohne ihn geht nichts mehr.

Der Computer ist aus dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken. Er sorgt für Verkehrsregelung, steuert Züge, Flugzeuge, Schiffe, Raketen, Raumfahrzeuge, ermöglicht Satelliten gestützte Navigation, stellt Rechnungen und Bankauszüge aus, hat das Büro revolutioniert, überwacht den Produktionsablauf, steuert Werkzeugmaschinen und Roboter, hat in den Konstruktionbüros das Zeichenbrett abgelöst und erlaubt über das Internet einen (fast) unbegrenzten Zugang zu Praktischem und Wissenswertem, besser als es jedes 25-bändige Lexikon kann. Und er analysiert objektiv und unbestechlich die riesigen Datenmengen, die bei der Erforschung des Weltraums, des menschlichen Erbgutes DNA, der Elementarteilchen, Strömungsmechanik im Fahrzeugbau, Klima- und Ozeanberechnungsmodelle, Kernfusion, Materialforschung anfallen.

Bild 20. Die Großcomputer am Zuse-Institut Berlin. Steigerung der Rechenleistung.

Bild 21. Die Großcomputer am Zuse-Institut Berlin. Weltweit werden immer mehr und immer schneller Hochleistungs-Computer aufgestellt: Der Rechner SGI ICE am ZIB war 2008 an 73. Stelle, ein Jahr später an 199. Stelle in der Leistung.

 

Ausgewählte Supercomputer (weltweit):

 

Bild 22. Die größten der Welt bis November 2016.

 

Bild 23. Begriffe und Definitionen.

 

Bild 24. Die rasante Steigerung der Rechengeschwindigkeit der Computer: In 11 Jahren jeweils um das 1000-fache! Maximum im Juni 2011 beträgt 8,1 Pflops, 2012 liegt die Spitze bei 16,3.  In 2020 wird 1 Eflops erreicht sein. flops... floating point operations per second. k...kilo=1000, M...Mega=1Million, G...Giga=1Milliarde, T...Tera=1Billion, P...Peta=1Billiarde, E...Exa=1Trillion. Achtung: Die y-Achse hat logarithmischen Maßstab, d.h. eine Gitterlinie Faktor 10.

Die Rechenleistung eines Computers wird heute in "Flops" gemessen, d.h. floating point operations per second, Gleitkommaoperationen in einer Sekunde. Der Z1 benötigte für eine Operation, z.B. eine Addition 5 Sekunden, d.h. 0,2 Flops, der Z3 hatte eine Rechenleistung von 0,3 Flops, und der Z23 schon 15 000 Flops, ein heutiger Laptop liegt mit seiner Rechenleistung je nach Ausstattung ungefähr zwischen 0,5 und 15 GFlops (Giga-Flops, Milliarden Rechenschritte pro Sekunde).

Bild 25. Anzahl der Schaltkreiskomponenten auf einem Computerchip: 1971 2300, 1990 1 Million, 2011 2,6 Milliarden, 2016 > 10 Milliarden. Moore´s Law: Verdopplung alle zwei Jahre.

Ende Oktober 2010 hat China den bisher schnellsten Computer der Welt, den amerikanischen XT5 Jaguar von Cray überrundet: Der chinesische Supercomputer Tianhe-1A erreicht 2,2 Peta-Flops (PFlops=1015 Rechenschritte, d.h. Billiarden pro Sekunde). Er verwendet Intel- und Nvidia-Chips, aber das Kommunikationssystem der 21000 Chips ist rein chinesisch. Der Jaguar erreicht 1,75 PFlops. Im Juni 2011 hat der japanische Superrechner K Computer den Chinesen überholt, mit 8,1 PFlops. Der schnellste deutsche Rechner steht im Forschungszentrum Jülich und bewältigt 0,825 PFlops. Wie rasant die Entwicklung fortschreitet zeigt dieser Vergleich: der schnellste Rechner im Zuse-Institut Berlin, ein SGI ICE mit 0,16 PFlops war 2008 der 73. der Weltrangliste, ein Jahr später der 199.!

Bild 25a. Technologie-Knoten, Entwicklung. Meilenstein f. Herstellung eines Chips. Halber Abstand zweier elektrischer Leiterbahnen, z.B. heute 14 nm.

Bild 26. Zuses Vorbild - Ada Augusta Byron, eine englische adlige Mathematikerin aus dem 19. Jahrhundert.

Zuses Vorbild - eine englische Mathematikerin aus dem 19. Jahrhundert.

1994 passierte etwas Ungewöhnliches: dem Literaturwissenschaftler Friedrich Christian Delius gibt Konrad Zuse ein langes Tonband-Interview. Der durfte es erst nach Zuses Tod in Buchform veröffentlichen: F.C. Delius: "Die Frau, für die ich den Computer erfand", Roman, Rowohlt Berlin, 2009. Da erfahren wir voller Staunen, dass Zuse eine leidenschaftliche Fernliebe zu Ada Augusta Byron, Countess of Lovelace (1815 -1852), der Tochter Lord Byrons gehabt hat. Sie war Mathematikerin und legte einen Plan vor, wie man Zahlenreihen mit der vom Erfinder Charles Babbage erdachten Maschine berechnen könne. Dies brachte ihr den Ruhm ein, das erste Computer-Programm geschrieben zu haben. Sie war die Frau, zu der er in Bewunderung aufblickte, die ihm half, den Computer zu erfinden, die ihn tröstete, wenn er Misserfolge hatte, die ihn vorwärts peitschte, wenn er abschlaffte, die ihm beistand, Durststrecken zu überwinden. Da sie seine mathematische Lebensgefährtin, seine Muse der Naturwissenschaft, seine Schutzpatronin war, widmete er ihr seinen Computer, nannte er insgeheim für sich seine Rechner nicht Z1, Z2, Z3…., sondern der fernen Ada zu Ehren A1, A2, A3… Sie war die Frau, für die ich den Computer erfand, bekennt er auf dem Tonband. Oder hat sich Delius diese Geschichte nur ausgedacht und lediglich die Biografie Zuses auf diese unterhaltsame Weise geschrieben? Nun, lieber Leser, streng dich ein bisschen an und finde es heraus, ist es Dichtung oder Wahrheit?

 

 

 

Bilder 27, 28, 29, 30. Ehrungen für den Erfinder des Computers: Wie der Künstler ihn sieht...und Denkmäler in Hünfeld und Bad Hersfeld, Münze 2010.

 

 

Bildnachweis

1, 2, 3, 4: eigene Fotos. 12, 18, 19: eigene Fotos Technik-Museum Berlin. 8, 20, 21: eigene Fotos Zuse-Institut Berlin. 6, 9, 11, 13, 17: eigene Zeichnungen. 7a,b,c: Eigene Fotos 2015. 10: Website Zuseum Bautzen. 14: User Teslaton, GNU-Lizenz für freie Dokumentation. 5: Spiegel online 2010. 24: Urheber Geek1337, GNU-Lizenz für freie Dokumentation. 25: Wgsimon, CC BY SA 3.0. 25a: Cmglee, CC BY SA 3.0, unported. 26: Wikipedia, public domain, copyright erloschen. 15: Aus: Zuse, Konrad: Der Computer - mein Lebenswerk, 2. Aufl. Berlin, Springer, 1986. 22, 23: Lizenz: Wikipedia, Creative Commons Attribution/Share Alike. 16: Website Horst Zuse. 28: Urheber profiler 1888, GNU free documentation licence. 29: Public domain. 27:Computerwoche 6/2010. 30: Eigenes Foto 2011.

Der Computer - Kurzinfo

Konrad Zuse (*1910 Berlin, †1995 Hünfeld) erfand 1941 den ersten arbeitsfähigen, Programm gesteuerten, frei programmierbaren Computer der Welt mit Gleitkommarechnung, basierend auf dem binären Zahlensystem, genannt Z3. Er stand in einem Wohnzimmer in Berlin-Kreuzberg, nicht im Silicon Valley in USA.

Die Z3 erreichte eine Rechenleistung von 0,3 Flops (floating point operations per second = Rechenschritte in der Sekunde). Zuses Z23 hatte schon 15000 Flops, und der heutige schnellste Superrechner der Welt bewältigt 2,5 Peta-Flops (PFlops=1015 Rechenschritte, d.h. Billiarden pro Sekunde).

Weil er zu faul zum Rechnen war, macht er eine Jahrhundert-Erfindung, die universale Rechenmaschine! Zuses Geschichte ist hoch dramatisch: der Bombenkrieg zerstört seine ersten drei Computer, mit dem vierten geht er auf die Flucht, gründet seine eigene Firma und macht bankrott.

Der Computer - die ganze Geschichte