Bild 1. 1846 gründete Carl Zeiss seine erste Jenaer Werkstatt für Mikroskop-Herstellung.  Bild 2. Ein Mikroskop von 1879 nach den wissenschaftlichen Berechnungen von Ernst Abbe.

  

Auf Ernst Abbe (*1840 Eisenach, †1905 Jena) trifft das Goethe-Wort zu: Denken und Tun - das ist die Summe aller Weisheit. Abbes Vater war ein hart am Rande der Existenz arbeitender Spinner und Weber. Dennoch schaffte es Ernst bis zum Forscher, Universitätsprofessor, Großindustriellen - und zum Wohltäter der Menschen. Er war Praktiker und Theoretiker in einer Person - und das war sehr selten im deutschen Erfinderjahrhundert. Nichts ist praktischer als die richtige Theorie, sagte er einmal.

Das erste Mikroskop hatte schon im 17. Jahrhundert der Niederländer Antoni Leeuwenhoek gebaut; es hatte nur eine Linse mit einer bis zu 300-fachen Vergrößerung. Abbe hat also nicht das Mikroskop erfunden, stellte aber die Herstellung von Mikroskopen, Fernrohren und Foto-Linsen auf eine exakte, wissenschaftliche Grundlage. Durch Anwendung der pysikalischen Gesetze der Lichtbrechung und Beugung konnte er optische Instrumente von bis dahin ungeahnter Präzision anfertigen. Bis dahin "pröbelte" man die Linsen, d.h. mit erfahrener, geschickter Hand schliff man so lange an dem Glasstück herum, bis man den Bestwert erreicht zu haben glaubte, ganz im Sinne der "Versuch-und-Irrtum-Methode". Wieviele, schon fast fertige Linsen mussten zum Schluss als Ausschuss erklärt werden, weil man sich verschliffen hatte?

Durch seine Berechnungsverfahren ersetzte Abbe das sogenannte Pröbeln (d.h. Probieren) und wurde so zum Begründer der modernen optischen Industrie.

 

Bild 3. Historische Mikroskope vor Ernst Abbe: Mikroskop von Marshall, London, Anfang 18. Jahrhundert.  Bild 4. Nürnberger Pappemikroskop, 1780, Domkanzley.

 

Bild 5. Das Prinzip der Vergrößerung: Die Lupe. Die Lichtstrahlen des Objekts gelangen - von der Linse gebrochen - ins Auge. Das Auge verfolgt die Lichtstrahlen geradlinig über die Linse hinaus und erzeugt so ein vergrößertes Bild. Das ist auch das Grundprinzip des Mikroskops.

Neugier auf die Gesetze der Optik. Es begann 1866, als er als promovierter Privatdozent an der Uni Jena beim Universitäts-Mechanikus Carl Zeiss sich selbst einen galvanischen Apparat zusammen bauen wollte, weil für ein solches Gerät kein Geld da war. Es war ungewöhnlich, dass ein Dozent sich handwerklich betätigen wollte. Zeiss´ Mitarbeiter lächeln und witzeln über ihn, aber sie bescheinigen ihm, "Köpfchen und Händchen" zu haben. Abbe wird plötzlich von Neugier gepackt und lässt sich vom Chef die Fertigung optischer Instrumente im einzelnen erklären. Der 26-jährige Abbe und der doppelt so alte Zeiss schließen Freundschaft, weil beide die Liebe zur Naturwissenschaft verbindet. 1866 feiert die kleine Firma die Fertigstellung des 1000. Mikroskops. Sie gleichen sich alle, aber alle Linsen sind in sehr aufwändiger Handarbeit durch zufallsbedingtes Pröbeln hergestellt. Abbe überlegt: Die für die Vergrößerung ursächliche Lichtbrechung beim Übergang von Luft auf Glas folgt doch eindeutigen Naturgesetzen. Die sind bisher nirgends niedergelegt, und einige Professoren haben es Herrn Zeiss schon wie ein Gesetz verkündet, dass die vollständige Berechnung der Form einer Linse auf theoretischem Wege nicht möglich sei. Zeiss fragte Abbe: Möchten Sie es wagen, mir zu helfen? Der ist wie elektrisiert und vom Forschungs- und Erkenntnisdrang gepackt. Herr Zeiss, ich will es versuchen.

Lichtbrechung und Lichtbeugung - die müssen sich doch berechnen lassen! Für Ernst Abbe beginnt nun ein völlig neues Leben; er fühlt sich berufen, für einen praktischen Zweck zu forschen. Seine Dozententätigkeit behält er bei, aber das Geheimnis der Lichtgesetze lässt ihn nicht mehr los. Er geht an die Arbeit. Bücher und Fachzeitschriften, hingekritzelte Berechnungen, Skizzen, Notizen liegen in Häufchen umher. Für teure neue Versuche greift Carl Zeiss immer wieder in die Tasche. Den sich auftürmenden Schwierigkeiten rückt Abbe systematisch zu Leibe. Sein Auge ist scharf, sein kritischer Geist lässt nicht locker, dazu kommen eiserner Wille und Durchhaltevermögen. Teilerfolge und Fehlschläge wechseln sich ab. Und Stück für Stück kommt er der Lösung des Problems näher. Hier ist sein Drei-Punkte-Plan: 1) Aufstellung einer wissenschaftlichen Abbildungstheorie. 2) Serienherstellung von Mikroskoplinsen nach dieser Theorie. 3) Ständige Überprüfung und Korrektur der Theorie in der Praxis.

Nach zwei langen Jahren hat er es geschafft, die neuen, berechneten Linsen werden in ein blitzendes Instrument eingebaut, ein Präparat wird auf den Objekttisch aufgelegt. Abbe schaut rein. Herr Zeiss, stammelt er, das Ding ist schlechter als die gepröbelten. Geben Sie mir noch Zeit, das Bild ist schärfer als sonst, nur Einzelheiten verschwimmen, irgendwo ist noch der Wurm drin. Zeiss hat Vertrauen zu Abbe. Die Pröbler jedoch feixen: Ja, Herr Professor, Probieren geht doch über Studieren!

Er beginnt eine fieberhafte Jagd auf den Wurm, der sich in seinen Untersuchungen als "Lichtbeugung" entpuppt. Das Licht wird nicht nur gebrochen, sondern auch gebeugt, und zwar an den Rändern der Blenden und des Präparats. Das lässt die Einzelheiten verrauschen. Es gelingt ihm, diese Abweichungen zu berechnen und im Linsenbild aufzuheben. Um die Wende 1870/71: Einbau in das Gerät, die Stunde der Wahrheit, scheinbar ruhig wie ein Schachspieler schaut er durchs Okular auf ein winziges Urtierchen. Und jetzt kann er sein Heureka rufen: Herr Zeiss, es ist geschafft! Im Jahr 1872 wird die umwälzende Neuerung in der Preisliste der Firma Zeiss bekannt gegeben: Die aufgeführten Mikroskope sind aufgrund theoretischer Berechnungen des Professors Ernst Abbe/Universität Jena konstruiert.

Jugend und Werdegang. Rückblende: Ernst Abbe wurde in die bettelarme Familie eines thüringischen Spinners hineingeboren. Da wurde keine Seide gesponnen, sondern es waren hungernde Strumpfwirker, die gegen die neue maschinelle Konkurrenz auf verlorenem Posten standen. 14-16 Stunden Arbeit für den Vater bei kümmerlichem Lohn. Aber die vierköpfige Familie war immer sauber angezogen, und sie sparten sich ein paar Taler vom Munde ab, um auf Schicksalsschläge gefasst zu sein; denn es gab weder Kranken- noch Sozialkassen in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Ernst ging fröhlich zur Volksschule in Eisenach und entwickelte sich zu einem lernbegierigen Bürschlein. Nach vier Jahren zögert der Vater, ihn auf die Realschule zu schicken, um ihn dann studieren zu lassen. Dafür reicht das Geld überhaupt nicht. Der Spinnfabrikant ruft den Vater zu sich: Herr Abbe, hier ist mein Vorschlag: Ich stifte ihrem Sohn eine Freistelle auf einer höheren Schule, danach tritt er bei mir als Volontär ein, da wird er es schnell zu etwas bringen. Einverstanden?

Realschule und Studium. Auf der Realschule ist er mit Freuden dabei, Lernen ist für ihn wie ein Lebenselixier. Er ist aber überhaupt kein egoistischer Streber, ist oft lustig und hilft schwächeren Kameraden. Er sagt einmal: Es ist wunderschön, so viel lernen zu können. Die Kinder der Reichen wissen dies gar nicht zu schätzen, sind oft faul und möchten am liebsten wieder runter von der Schule. Und den wissbegierigen armen Kindern ist der Schulbesuch verschlossen. Das ist ungerecht und wurmt mich. Schon mit 17 legt er die Reifeprüfung ab mit durchweg guten Noten. In Mathe und Nawi erhält er eine besondere Anerkennung: Er löst sogar ein physikalisches Problem mit Hilfe mathematischer Formeln, was auf der Schule noch nie vorkam.

Bild 6. Ernst als Studiosus in Göttingen - kein fröhliches Burschenleben für den 20-Jährigen.

Dreimal darf geraten werden, was nun kam: Er wollte unbedingt studieren, für ihn führte kein Weg daran vorbei. Er hatte auf der Schule soviel Blut geleckt in Mathe und Physik, dass es diese Fächer auf der Uni sein mussten. Aber kann man einem nackten Mann in die Tasche fassen? Der Familienrat beschloss, ihm 5 Taler monatlich beizusteuern für das Studium in Jena. Ernst: Macht euch keine Sorgen, ich komme damit aus, ich kann nebenbei arbeiten mit Kopf und Hand. Sein Vater: In Gottes Namen, Ernst, studiere! Der Spinnfabrikant entlässt ihn aus der eingegangenen Verpflichtung: Widerstand zwecklos, also los, Professor-Baby, hinein ins akademische Leben!

Mit Feuereifer stürzt er sich 1857 ins Studium, zuerst in Jena, dann in Göttingen. Er hat die billigste Studentenbude, ein fröhliches Burschenleben findet bei ihm nicht statt. Als Entspannung mag er Freundschaft und Geselligkeit, Unterhaltung über fachliche und menschliche Probleme und ausgedehnte Wanderungen in die schöne Umgebung. Seine Begleiter haben Mühe, mit dem fast 2 Meter messenden Kommilitonen mitzuhalten. 1861, also mit 21 Jahren, erhält er für seine Doktorarbeit "Äquivalenz zwischen Wärme und mechanischer Arbeit" die Bestnote "vorzüglich". Nun ist er Dr. Ernst Abbe.

Sieben magere Jahre als Privatdozent. Es beginnt jetzt für ihn keineswegs ein Leben im Wohlstand. Es gibt für Leute wie ihn noch keine industriellen Arbeitsplätze, so wie wir sie heute kennen. Die Deutschen haben ihre Rolle als beginnende Industrienation noch nicht richtig angenommen, Geisteswissenschaften stehen hoch im Kurs, Naturwissenschaften werden unterbewertet, und der Agrarstaat ist noch immer die Lebensgrundlage. Nach zwei Jahren Arbeit auf der Sternwarte und beim Physikalischen Verein in Frankfurt/M. bekommt er eine freie Stelle an der Uni Jena als Privatdozent. Auch jetzt keine Spur von Wohlhabenheit. Ihm steht kein Gehalt zu, nur die lächerlich geringen Kolleggelder. Nun beginnen für ihn die sieben mageren Jahre. Auf der Uni wird er "Dozent der Bedürfnislosigkeit genannt". Als der Universitätskurator Seebeck bemerkt, dass Abbe in eine Nervenkrise geraten ist, bewilligt er ihm außerordentliche Unterstützungen von 200, dann 300 und nochmals 500 Talern. Mit neuer Hoffnung arbeitet Abbe weiter.

Dr. Abbe arbeitet in Zeiss´ Werkstatt. Die Versuchsapparate und Instrumente des physikalischen Instituts sind veraltet und total marode. Abbe sieht, dass es weitergehen muss. Sein Ordinarius bedeutet ihm, dass der Dienstweg für die Beschaffung neuer Geräte jahrelang dauert. Wir müssen auf Versuche verzichten. Abbe: Das geht nicht, Naturwissenschaft ohne Versuche ist sinnlos, diese Sparsamkeit ist verrückt. Kurzerhand geht Abbe daran, eine kleine Werkstatt einzurichten, verbringt seine Abende damit, alte Apparate zu reparieren und aus vorhandenen Teilen neue zusammen zu bauen. Jetzt kann er seine Vorlesungen wieder durch manchen Versuch ergänzen. Ein magnetisch-galvanischer Apparat fehlt aber noch dringend. Wie wär´s, wenn ich zum Universitätsmechanikus Zeiss gehe, ihn bitte, Material und Werkzeugmaschinen zu stellen, und mir zu erlauben, in seiner Werkstatt das Ding zusammenzubauen? Der Vorschlag verblüfft seinen Chef und ebenso Carl Zeiss. Der hatte Abbe schon früher einmal kennen gelernt, als er ihm Tipps zum Selberbasteln eines Mikroskops gegeben hatte. Es war äußerst ungewöhnlich, dass ein Herr Doktor sich als Handwerker betätigte. Er willigte ein und konnte sich bald von der praktischen Begabung Abbes überzeugen. Der Apparat wird fertig und funktioniert bestens. Zeiss findet Gefallen an dem jungen Mann, erklärt ihm die Herstellung optischer Instrumente, Abbe übernimmt bei der Fertigung von Mikroskopen einfache, dann immer schwierigere Arbeiten, und beide Männer werden miteinander vertrauter. Der 26-jährige Abbe und der doppelt so alte Zeiss schätzen und lieben beide die Naturwissenschaften. Abbe lernt von ihm, dass es auf äußerste Präzision ankommt, dass aber noch eine theoretische Berechnung der Linsen fehlt.

Seine Lebensaufgabe - Erfindung der Linsenberechnung. Zeiss weiß, dass die Weiterentwicklung seiner Mikroskope keine Fortschritte gemacht hat seit 1846, als er seine erste Werkstatt eröffnete. Jetzt schreiben wir 1866 und feiern die Fertigstellung des 1000. Mikroskops. Ein Mathematik-Professor hatte ihm mal unmissverständlich klargemacht, dass es unmöglich sei, die Form einer Linse vorauszuberechnen. Totschlagargument, oder? Aber warum sollte die Natur nicht ihre Geheimnisse preisgeben, wenn man nur genügend Gehirnschmalz investiert? Könnte das nicht der Dr. Abbe versuchen? Herr Doktor, möchten sie es wagen, mir zu helfen? Abbes Forscherdrang ist geweckt. Wie im Brennpunkt einer Linse sammelt er Möglichkeiten und Vorgehensweisen. Dann sagt er zu, ohne Erfolg versprechen zu können. Das war etwas vollkommen Neues, nirgendwo gab es derartiges, es reizte ihn mächtig. Ran an die Arbeit! Das war jetzt die Aufgabe seines Lebens, jetzt wird erfunden!

Bild 7. Das Lichtbrechungsgesetz, die Grundlage für die Vergrößerung in Mikroskopen und Fernrohren.

Bild 8. Vergrößerung durch Lichtbrechung. Der Strahlengang im Mikroskop: Die Vergrößerung erfolgt in zwei Stufen: Das Objektiv erzeugt ein reelles, umgekehrtes, vergrößertes Zwischen-Bild, das Okular wirkt wie eine Lupe und entwirft vom Zwischen-Bild ein virtuelles, nochmals vergrößertes aufrechtes Bild, das man im Auge sieht oder in einer Kamera auf die Bildebene projiziert. Von links wird das Objekt beleuchtet über den Kondensor, den Objektträger und das Deckglas in das Objektiv (nicht dargestellt). Zwischen Objektiv und Okular befindet sich meist noch eine Tubuslinse zur Verbesserung des Zwischen-Bildes. 

Bild 9. Lichtgeschwindigkeit: Eine fundamentale Naturkonstante von 300000 km/s, aber nur im Vakuum! In gasförmigen, flüssigen und festen Medien ist sie wesentlich kleiner infolge der Wechselwirkung der Photonen mit mehr oder weniger dicht gepackten Molekülen. Bei den Glassorten verschiedener Dichte gibt es Unterschiede zwischen 150000 bis über 200000 km/s. In dem dünnen Medium "Luft" ist die Abbremsung vernachlässigbar. Den Brechungsindex "n" erhält man, indem die Vakuum-Lichtgeschwindigkeit durch die Lichtgeschwindigkeit des betreffenden Mediums geteilt wird.

Entwicklung in Stufen. Es war ihm klar, dass die gewaltige Aufgabe nicht in einem Durchgang, sondern nur in einzelnen Teilschritten erledigt werden konnte. Auf dem Weg zu seinem Ziel machte er "so nebenbei" 50 optische Erfindungen und Entdeckungen, z.B. den Abbe´schen Beleuchtungsapparat, der das Objekt so hell anstrahlt, dass ein scharfes Bild entsteht und den Refraktometer, der die genauen Brechungswinkel des Lichtstrahls in den verschiedenen Glassorten messen kann. So ist es ihm möglich, die verschiedenen Brechungsindizes zu ermitteln, mit deren Hilfe er für jeden Strahlengang die Brechung beim Eintritt in die und beim Austritt aus der Linse berechnen kann und damit die Form des Linsenkörpers. Hier muss er dann nur das seit dem 17. Jahrhundert bekannte Brechungsgesetz n1sinα=n2sinβ anwenden.

Bild 10. Parallel auf eine Blende treffende Lichtstrahlen laufen "um die Ecke" und erzeugen je nach dem Ablenkwinkel in der Bildebene ein Interferenzmuster mit konzentrischen Hell-Dunkel-Kreisringen: hell ungebeugt...Maximum 0.Ordnung, hell...Maximum 1.Ordnung, dazwischen dunkler Ring.

Bild 11. Die Bedeutung der Lichtbeugung für das Auflösungsvermögen, d.h. die Bildqualität eines Mikroskops. Die ersten drei Maxima des Beugungsmusters müssen im Zwischenbild erscheinen.

Bild 12. So sieht es in der Realität aus: A... Okular, B... Objektiv, C... Objektträger, D... Kondensor (zur Bündelung des Beleuchtungs-Strahls), E... Objekt-Tisch, F... Beleuchtungs-Spiegel.

Die Lichtbeugung machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Eine harte Nuss für ihn ist ein weiteres physikalisches Phänomen: Die Lichtstrahlen werden nicht nur gebrochen, sondern nehmen nach dem Passieren einer Blende nicht nur geradlinig ihren Weg, erfahren an den Innenrändern der Blende eine merkwürdige Ablenkung aus der Richtung der optischen Achse, laufen ein Stück um die Ecken herum und dann in divergenten Strahlenbündeln weiter. Dabei passiert es, dass bei einem bestimmten Ablenkungswinkel zwei abgelenkte Nachbarbündel eine halbe Wellenlänge Phasenunterschied haben und sich daher auslöschen und bei einem anderen Winkel mit einer Wellenlänge Unterschied eine Verstärkung erzeugen. Diese Überlagerung oder Interferenz führt bei runden Blenden auf der Bildebene zu konzentrischen Hell-Dunkel-Kreismustern, besonders bei kleinen Blendenöffnungen.

Die blitzartige Erkenntnis kam ihm 1870 während einer Vorlesung vor großer Zuhörerschaft, als er zum außerordentlichen Professor an der Uni Jena ernannt wurde. Er konnte gar nicht mehr richtig weitersprechen, stammelte herum und erzeugte Gelächter im Saal und spöttische Ausrufe. Er hatte an der Bluse einer Dame eine funkelnde Brosche gesehen, die das Licht auf eine geheimnisvolle Weise sammelte. Da wusste er instinktiv, außer Brechung gibt es eine Lichtbeugung. Ja, das war es, was das Bild in seinem "genau" berechneten Mikroskop so verschwimmen ließ! Heureka, ich hab´s! Das kann ich sicherlich berechnen und in die Bemessung der Linsen einbeziehen. Nach dem Vortrag verließ er, gebeugt, aber keineswegs gebrochen, in Gedanken versunken den Saal, und alle dachten: Ein sehr zerstreuter Professor! Es war aber genau das Gegenteil, er war hoch konzentriert, nur nicht auf seinen Vorlesungsstoff.

Und das erarbeitete er sich im Zeitraum eines Jahres: Das Objektiv muss einen großen Öffnungswinkel haben, zwischen dem Objekt und dem Objektiv muss ein Immersions-Medium eingeschlossen sein mit hohem Brechungsindex; dazu eignet sich Wasser oder Öl, keineswegs Luft. Damit erhält er im Zwischenbild ein Beugungsmuster mit möglichst drei oder mehr Helligkeits-Maxima und somit ein optimales Auflösungsvermögen. Verhindert werden konnte die Beugung nicht, sie musste nur sinnvoll in die Dimensionierung mit einbezogen werden, indem möglichst viele Helligkeitsmaxima des Beugungsmusters im Zwischenbild erzeugt werden.

Jetzt war sich Abbe sicher: Die Geheimnisse des Lichts in seinen Linsensystemen hatten sich ihm offenbart, er war den physikalischen Gesetzen der Brechung und Beugung auf die Schliche gekommen. Jetzt konnte nichts mehr schief gehen.

Eine Sternstunde der Menschheit. Um die Jahreswende 1870/71 war der entscheidende Augenblick gekommen. Das neue Mikroskop, berechnet nach den Gesetzen der Brechung und Beugung stand da, das Messinggehäuse blitzte, Carl Zeiss ging unruhig hin und her, Ernst Abbe legte winzige Kalkschalen kleiner Urtiere zwischen die Glasscheiben, schob das Präparat unter die Linse, kniff das Auge zusammen, drehte an der Feineinstellschraube, um Millimeter hob und senkte sich das Mikroskop. Abbe war Minuten lang ganz ruhig, richtete sich dann aus seiner tiefen Beugung auf, schaute dem Meister ins Gesicht, und dann kamen die Worte: Die Formel stimmt! Dann schaute Zeiss ins Okular. Groß und klar sah er die Welt der winzigen Dinge, keine Verzerrung, kein Schleier. Er drehte die Schraube ein paar Mal hin und her, das wunderbar scharfe Bild kam zurück und war nicht das Ergebnis eines Zufalls. Die beiden Männer gaben sich die Hand, Tränen in den Augen, das Tor stand weit offen, Sorgen und Mühen waren vergessen. Eine Sternstunde der Menschheit. In der Stille seines Häuschens zog Abbe Bilanz der letzten schweren Jahre, geprägt von pausenloser Arbeit, von Enttäuschung aber auch Hoffnung.

Bild 13. So sahen sie aus: Abbes erste wissenschaftlich berechneten Mikroskope, gebaut in Jena bei Carl Zeiss. Hier das Mikroskop mit der Nr. 4262 von 1879, zu besichtigen im Deutschen Museum München.

Im September 1871 heiratete er Elise Snell, die Tochter seines akademischen Lehrers. Jetzt kam sein Leben in ruhigere Bahnen, er fühlt sich entspannt und glücklich; die Hochzeitsreise geht nach Oberbayern. In der Werkstatt in Jena entstand Linse um Linse, alle präzisionsgeschliffen nach Abbes neuer Formel. Es gab keinen Zufall mehr, keinen Versuch-und-Irrtum, kein Pröbeln. Und Jena war Zeiss, und Zeiss war Abbe, und in jedem Mikroskop waren drei Worte eingraviert: "Gebaut in Jena". Jena überstrahlte die anderen optischen Werkstätten in Göttingen, Wetzlar und Berlin.

Abbes Leben hat eine neue Wendung bekommen, hin zum Fabrikanten und Großindustriellen. Die neuen Instrumente erlangen in aller Welt großen Ruhm. Die Forscher haben mit so vorzüglichen und preiswerten Mikroskopen beste Möglichkeiten, voranzukommen. Sie kommen aus allen Gegenden Deutschlands und Europas in das thüringische Städtchen. Darunter sind Robert Koch, der Bazillenjäger und Rudolf Virchow, der die Körperzellen zu seinem Forschungsmittelpunkt gemacht hat. Deutschlands führender Physiker Hermann Helmholtz macht dem Kollegen aus der Kleinstadt das verlockende Angebot, eine Spezialprofessur in Berlin zu übernehmen. Abbe dankt und lehnt ab, ohne sich lange zu besinnen. 1873 wird das 2000. Instrument ausgeliefert, in jedem Jahr verdoppelt sich die Belegschaft, die Serienfertigung hat einen riesigen Rationalisierungsschub gebracht. 1876 schließt Zeiss einen Vertrag: Abbe wird stiller Teilhaber mit der Hälfte des Wertes des Unternehmens. Fortan gehört ihm die Hälfte des Ertrages. Und der steigt von Jahr zu Jahr rasant an.

 

 

 

 

 

 

 

Bild 14. Das erfolgreiche Dreigestirn: Ernst Abbe, Carl Zeiss, Otto Schott. Weltruhm für Zeiss Jena.

Der dritte Mann. Abbe ist mit den Mikroskopen noch nicht ganz zufrieden. Eins wie das andere ist fehlerlos gefertigt, und doch sind immer wieder Unterschiede in der Bildqualität zu verzeichnen. Es liegt am Glas! Es hat Unreinheiten und Farbschimmer! Es müsste doch möglich sein, optisch einwandfreies Glas nach klaren chemisch-wissenschaftlichen Gesetzen herzustellen! Schade, dass ich nicht noch Chemie studiert habe! Unvermutet erhält er 1879 ein eingeschriebenes Päckchen von Dr. Otto Schott aus Witten in Westfalen. Die enthaltenen Glasproben möge er sich ansehen, ihm selbst sei daran gelegen, mit dem Haus Zeiss eine geschäftliche Verbindung einzugehen. Schotts Glas war tatsächlich besser als die englischen und französischen Gläser, die Zeiss für teures Geld einkaufen musste. Er antwortet Schott, auch er sei an einer Verbindung interessiert, nur bedürfe es sehr vieler Versuchsreihen, um das optimale Ergebnis zu erzielen. Hunderte von Proben werden von Witten nach Jena geschickt, dort geschliffen und getestet. Schott tat einen Glücksgriff: Er setzte auf Bor- und Phosphorsäure als Bestandteil. 1881 war das Problem gelöst, die Achromatisierung, d.h. Farblosmachung des Glases war zur vollen Zufriedenstellung gelungen. Ein Jahr später siedelt der Glasdoktor nach Jena über und baut zunächst eine glastechnische Versuchsanstalt. 1884 kann dann das "Jenaer Glaswerk Schott und Genossen" (das sind Abbe, Zeiss Vater und Sohn) den Betrieb aufnehmen.

Bild 15. Großes Forschungs-Mikroskop, 1910, Nr. 54248. Das absolute Spitzeninstrument seiner Zeit.  Bild 16. Das Zeiss-Logo, bestehend aus dem stilisierten Tessar-Objektiv.

Das Dreier-Gremium ist auf Erfolgskurs. 1886, als das 10000. Mikroskop ausgeliefert wird, stellt Abbe fest, dass er ein reicher Mann geworden ist. Das miserabel ausgestattete physikalische Institut der Uni, das einen Jahresetat von 40 Mark hat, erhält von ihm jetzt eine jährliche Spende von 6000 Mark. 1888 gibt es Schwierigkeiten, als Carl Zeiss stirbt. Mit seinem Sohn Roderich ist kaum eine Zusammenarbeit möglich. Selbstherrlichkeit, Sprunghaftigkeit, Widerruf getroffener Abmachungen - damit kann die Firma nicht erfolgreich weiter geführt werden. Abbe kauft Zeiss jun. die Hälfte der Firma ab, 1889 ist er Alleininhaber der Zeisswerke. Die Glaswerke bleiben im Gemeinschaftsbesitz.

Bild 17. Das 650-mm-Zeiss-Linsenfernrohr der Sternwarte in Berlin-Babelsberg von 1910, das erste Großinstrument.

Bild 18. Das Zeisswerk in Jena 1912. Unter der roten Kuppel das Planetarium. Vorn im Bild der "Abbe-Tempel", dem großen deutschen Wissenschaftler, Industriellen und Sozialreformer zum Gedenken errichtet von Henry van de Velde.

Abbe leitet nun eine Periode der Expansion ein. Der Umsatz an Fotoapparaten überholt 1890 die Mikroskope, 1894 beginnt der Bau moderner Fernrohre in der bekannten Präzisionsausführung. Sternwarten in aller Welt werden mit Zeiss-Linsenfernrohren (sog. Refraktoren) ausgerüstet. Der Strahlengang ist dem im Mikroskop sehr ähnlich, nur dass der Objektiv-Brennpunkt mit dem Okular-Brennpunkt zusammen fallen muss.

Bild 19. Das berühmte, aus vier Linsen bestehende Zeiss-Objektiv "Tessar". Vorbild für das Logo der Firma ab ca. 1900 bis 1945.

Das Zeiss-Tessar-Objektiv ist eines der bekanntesten Objektive für Fotoapparate, entwickelt 1902. Mehr als 100 Millionen Objektive dieses Typs (Original und Nachahmer) wurden seitdem gebaut. Es besteht aus vier Linsen (griechisch: tessera=vier). Es zeichnet sich durch eine für die damalige Zeit unerreichte Schärfeleistung aus, hat nur geringe sphärische Zonenfehler, beste Mittenschärfe und gute Farbkorrektion.

 

 

 

Bild 20. Zeiss-Ikon-Fotoapparat, ca. 1927, mit Tessar-Objektiv, 1:4,5.  Bild 21. Zeiss-Ikon-Apparat, 1930er, mit Nettar-Objektiv, 1:3,5. 1927 gründete Zeiss, zusammen mit weiteren Kamera-Herstellern die neue Firma "Zeiss-Ikon", das ist ein Kunstname nach dem Griechischen Ikona=Bild.

Vom armen Schlucker zum Großindustriellen zum Wohltäter. Wie geht nun unser Freund Ernst Abbe mit seinem neu gewonnenen Reichtum um? Der Aufstieg vom Sohn eines bettelarmen Spinners zum Großindustriellen - eine bewundernswürdige Leistung, was macht er daraus? Er betrachtet seine neue Lage nicht nur mit den Augen eines Unternehmers und Kapitalisten, sondern immer auch noch mit den Augen des Arbeitersohnes. Er kommt zu dem Schluss, dass seine neue Situation nicht ausschließlich sein persönliches Verdienst ist.

Und das sind seine revolutionären Erkenntnisse, die zu einer völlig neuen Unternehmensform führen:

1. Die Wirtschaft muss dem Wohl des Menschen dienen, die menschliche Würde ist in jedem Arbeiter zu achten. 2. Da der Gewinn des Unternehmers durch die Tätigkeit vieler anderer zustande kommt, ist der größte Teil treuhänderisch als öffentliches Gut zu betrachten. 3. Die eigene wissenschaftliche Leistung ist kein eigenes Verdienst, sie stützt sich auf die Summe dessen, was seine Vorgänger geschaffen haben. 4. Der Anteil persönlichen Erfolges, schöpferische Begabung und Befähigung sind ein Geschenk Gottes. 5. Die Menschenrechte aller Arbeiter und Schaffenden müssen durch ein Arbeitsrecht gesichert werden.

Bild 22. Mikroskope: Vom Barock zur Wissenschaft, von London 1740 bis Jena 1873 - welch eine Entwicklung in 130 Jahren!

Daraus zieht er für die Firma Zeiss folgende Konsequenzen: Ab 1901 gilt bei Zeiss der 8-Stundentag (seine Meinung: 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Schlaf, 8 Stunden Mensch sein). Ein Grundlohn wird garantiert, der dem Arbeiter eine gesicherte Existenz bringt. Darauf werden Zuschläge für Überstunden und Feiertagsarbeit gezahlt. Jeder hat Anspruch auf bezahlten Urlaub. Bei Krankheit werden drei Viertel des Lohnes bezahlt. Ärztliche Betreuung und Medikamente stellt das Werk. Nach 5-jähriger Zugehörigkeit gibt es einen Anspruch auf eine Pension. Eine gewählte Arbeitervertretung hält Fühlung mit der Werkleitung. Es werden Theater- und Konzertabende geboten, eine Bibliothek, Schwimmbad und Sportplatz.

Diese Neuerungen waren eine Sensation in der damaligen frühkapitalistischen Arbeitswelt, und man kann sie getrost als zweite große Erfindung des Ernst Abbe bezeichnen. Darüber hinaus wandelt er die Firma in eine Stiftung um und machte sie 1891 zur alleinigen Eigentümerin der Werke. Auch Otto Schott fügt sich mit seiner Glashütte voll in die Stiftung ein. Abbe besiegelt das Statut der Stiftung 1896 mit einem überaus hochherzigen, persönlichen Opfer: Er überträgt der Stiftung seine gesamten Anteile an der Firma und überlässt ihr auch seinen Unternehmergewinn. Er bleibt Hauptgeschäftsführer mit festem Gehalt. Die Leitung der Werke geht an ein Kollegium der besten Fachkräfte über. Seiner Frau, mit der er eine sehr glückliche Ehe führt, offenbart er, dass er auf eine Summe von 2 Millionen Mark zugunsten der Zeiss-Stiftung verzichtet hat. Er bleibt in seinem kleinen, bescheidenen Haus; Besuchern, die sich darüber wundern, erklärt er, man müsse nur ein Mikroskop nehmen, dann sieht es größer aus.

Bild 23. Ehrung des großen Wissenschaftlers, DDR-Münze 1980.

Jena profitiert von den optischen Werken: Überall ist behaglicher Wohlstand zu spüren, es gibt viele saubere Häuschen mit Garten, die Geschäfte sind wohlausgestattet. Die 2000 Werksangehörigen wissen es zu schätzen, dass sie keine proletarischen Lohnsklaven mehr sind. Wenn Abbe mal über den Markt geht, treffen ihn nur freundliche und dankbare Blicke. Auch die Universität profitiert in ungeahntem Ausmaß von den Transferzahlungen: Bis zur Jahrhundertwende sind ihr schon 4 Millionen Mark zugeflossen.

 

 

  

 

    

Bild 24. Ehrung für den Freund Carl Zeiss. Bild 25. Ernst Abbes Relief auf dem Jenaer Friedhof. Beide bildeten eine wunderbare kreative Symbiose.

1903 legt Abbe mit 63 Jahren sein Geschäftsführeramt nieder. Seine Kräfte sind erschöpft, seine Gesundheit steht nicht zum besten. Die Jenaer veranstalten einen Fackelzug für ihn: Nehmen Sie das als Zeichen unseres Dankes und unserer Liebe! Wir wünschen Ihnen Genesung und einen glücklichen Lebensabend!

Als er am 14. Januar 1905 stirbt, weiß er sein Werk in guten Händen. Er hat durch seine systematische, wissenschaftliche Forschung unser aller Leben verändert, den Ärzten neue Möglichkeiten der Krankheitsbekämpfung, den Astronomen neue weite Horizonte erschlossen, den Fotografen wunderbare Kameras in die Hand gegeben, uns allen gesagt, dass nichts praktischer ist als die richtige Theorie und allen ins Stammbuch geschrieben: Wir alle gehören nicht uns selber. Ein großer und guter Mensch, ein Wohltäter seiner Arbeiter und der gesamten Menschheit.

Bildnachweis.

Bild 1: Public domain. Bild 2: Gemeinfrei, Timo Mappes. Bild 3, 4, 13, 15: Eigene Fotos am 1./2.8.2011 im Deutschen Museum München, Gestattungsvertrag für Bildaufnahmen vom 12.7.2011. Bild 5, 7, 8, 9, 10, 11: Eigene Zeichnungen. Bild 6: Zeichnung von F. Kohlrausch aus: "Wir alle gehören nicht uns selber", Deutscher Sparkassenverlag, Stuttgart, 1958, kein Copyright. Bild 12: Lizenz CC-BY-2.5, User Tomia. Bild 14: Nutzungsrechte abgelaufen. Bild 16: Darf mit dem Logo im Zusammenhang stehenden Artikeln verwendet werden.  Bild 17: Aus H. Sponsel "Die dramatische Geschichte des Hauses Zeiss", Bertelsmann, 1957. Bild 18: Nutzungsrechte abgelaufen. Bild 19: GNU Lizenz für freie Dokumentation, Urheber Tamasflex. Bild 20: Urheber S. Höhne, Lizenz CC-BY-SA 2.0. Bild 21: Eigenes Foto 2012. Bild 22, 23, 24: Gemeinfrei. Bild 25: GNU freie Dokumentation, Urheber ArtMechanic.

 

 

 

Die moderne Optik - Kurzinfo

Ernst Abbe (*1840 Eisenach, †1905 Jena) hat zwar nicht das Mikroskop erfunden, stellte aber die Herstellung von Mikroskopen, Fernrohren und Foto-Linsen auf eine exakte, wissenschaftliche Grundlage. Durch Anwendung der physikalischen Gesetze der Wellenoptik konnte er optische Instrumente von bis dahin ungeahnter Präzision anfertigen. Bis dahin "pröbelte" man die Linsen, d.h. mit erfahrener, geschickter Hand schliff man so lange an dem Glasstück herum, bis man den Bestwert erreicht zu haben glaubte, ganz im Sinne der "Versuch-und-Irrtum-Methode". Wie viele, schon fast fertige Linsen mussten zum Schluss als Ausschuss erklärt werden, weil man sich verschliffen hatte? Durch seine exakten Berechnungsverfahren ersetzte Abbe das sogenannte Pröbeln und wurde so zum Begründer der modernen optischen Industrie. Einer seiner Leitsprüche war: Nichts ist praktischer als die richtige Theorie. 1866 tat er sich mit dem Mechaniker Carl Zeiss zusammen, der seit 1846 in Jena eine feinmechanisch-optische Werkstatt betrieb. Das Problem der gleichbleibenden Qualität des Glases konnte aber von Zeiss und Abbe nicht gelöst werden. Sie holten deshalb den Chemiker und Glastechniker Friedrich Otto Schott nach Jena. Nach erfolgreichen Glasschmelzversuchen baute Schott ein Werk für optische Gläser auf, das "Jenaer Glaswerk Schott & Gen." Das Dreigestirn Abbe - Zeiss - Schott war die ideale Kombination Physiker - Mechaniker - Chemiker, die die Weltgeltung der Zeiss-Werke begründete. Abbe wurde 1875 Teilhaber an der Firma und 1889, nach Zeiss´ Tod alleiniger Inhaber. Durch Überführung der Firma in die Carl-Zeiss-Stiftung konnte er als Bevollmächtigter seine sozialreformerischen Ideen verwirklichen: bezahlten Urlaub, Gewinnbeteiligung, Pensionsanspruch, Achtstundentag für die Arbeiter.

Wie so viele Erfinder kam Ernst Abbe aus einem sehr armen Elternhaus. Das hielt ihn aber nicht davon ab, in der Schule fleißig zu sein. Im Abiturzeugnis wurden seine Leistungen in Mathematik und den Naturwissenschaften besonders anerkannt. Genau diese Fächer studiert er in Jena und Göttingen. Seine Doktorarbeit 1861 hat zum Thema: Äquivalenz zwischen Wärme und mechanischer Arbeit. 1863 wird er Professor in Jena. Und da beginnt dann die wunderbare Beziehung zwischen dem Universitätsprofessor Abbe und dem Universitätsmechaniker Zeiss, als es darum geht, Instrumente im Versuchslabor zu reparieren.

 

Die moderne Optik - die ganze Geschichte

Bild 1: 1952: Ehrung für einen großen Erfinder.

 

Philipp Reis (*Gelnhausen 1834, †Friedrichsdorf 1874) hatte in seiner Jugend ein hartes Los. Als er ein Jahr alt war, starb seine Mutter, und als er zehn war, sein Vater. Philipp ließ sich von seiner Kinderarmut nicht unterkriegen. Der an allen Dingen der Technik interessierte Junge handelte nach den drei Worten, die ihm sein Großvater mit auf den Lebensweg gegeben hatte: forsche, denke, erkenne! Er stieß in einer alten Truhe auf ein Buch des „gelahrten Abenteurers und Alchimisten Johann Joachim Becher aus dem Jahre 1682“. Er las darin, bis er in der Dämmerung die verschnörkelten Buchstaben nicht mehr entziffern konnte. Er las von schier unglaublichen Dingen, von einem Boot, das untertauchen und wieder hochsteigen kann, von einem Holzgestell mit zwei mächtigen Flügeln, mit dem sich Menschen in die Luft schwingen können und von einem Instrument, mit dem man Menschen, die eine Wegstunde entfernt sind, reden hören kann. So etwas möchte ich bauen! Sein Vormund jedoch, musste seine fantastischen Höhenflüge wieder auf den harten Boden der Tatsachen zurück holen: deine Eltern waren arme Schlucker, es ist kein Geld da, ich werde alles tun, um dir eine gute Ausbildung zu ermöglichen, aber mehr ist nicht drin, ein Studium ist völlig ausgeschlossen!

Trotz Kinderarmut bildete er sich weiter. Drei Jahre lang besuchte er das Institut des Professors Garnier in Friedrichsdorf im Taunus, eine naturwissenschaftlich orientierte Privatschule, wo er sehr viel Freude an Mathematik und Physik hatte, aber auch in Englisch und Französisch mit Lerneifer dabei war. Die Physik wurde nicht nur auf dem Papier gelehrt, sondern die Schüler durften selbst Versuche anstellen und die dazu nötigen Apparate selber bauen. Philipp lernte, dass es auf Genauigkeit ankam, dass das Experiment nicht klappte, wenn man schludrig arbeitete. So baute er einen Kompass mit Windrose, der so zuverlässig arbeitete wie einer von denen, die man teuer bezahlen musste.

Es blieb ihm dann nichts anderes übrig, als eine Kaufmannslehre in Frankfurt anzutreten. Er lernte noch Latein und Italienisch, vergaß aber nicht das Forschen, Denken, Erkennen und vor allen Dingen nicht seinen sprechenden Draht, der ihn nicht losließ, die Übertragung der menschlichen Stimme auf weite Entfernung. In einer Fachzeitschrift las er von der Idee des Franzosen Bourseul: Sprechen gegen eine bewegliche Platte, die im Rhythmus der Sprache schwingt und dabei einen Strom abwechselnd unterbricht; eine zweite in den Stromkreis eingeschaltete Platte führt zu gleicher Zeit die gleichen Schwingungen aus. Philipp sagte: zwischen der Idee und der Ausführung liegt aber eine sehr weite Strecke! Eins lernte er hier schon: elektrische Ströme können Schallwellen hervorbringen. Der Weg zu seinem Ziel führt nur über die Elektrizität! Der Direktor der polytechnischen Schule, die er neben seiner Berufsausbildung besuchte, empfahl ihm dringend ein Studium auf dem Polytechnikum in Karlsruhe. Dort werde er finden, wonach sein forschender Geist verlange.

Bild 2. Das 12 Meter lange "Sprachrohr", erfunden vom Lehrling Reis. Der Chef im oberen Stockwerk gibt seine Anweisungen an das Kontor.

 

Aber die bittere Wahrheit sah für Philipp ganz anders aus: die wenigen Ersparnisse seiner Eltern, von deren Zinsen das Schulgeld bisher bezahlt wurde, ist durch den Konkurs der Bank verloren, der Vormund selbst am Rand des Bankrotts, ein Studium daher völlig ausgeschlossen. Philipp Reis verliert nicht den Lebensmut, weiß aus allen Dingen das Beste zu machen und entscheidet sich, Lehrer für Mathematik und Physik an der Garnierschen Privatschule zu werden. Jungen Menschen Freund und Führer zu sein, dafür begeistert er sich. Da kann er als Autodidakt, d.h. als einer, der sich sein Wissen durch Selbstunterricht aneignet, weiter an seinem großen Ziel des sprechenden Drahtes arbeiten. Überall spürt er Lücken, die es zu füllen gilt. Zunächst muss er seine Lehre in der Farbwaren-Firma Beyerbach in Frankfurt zu Ende bringen. Die macht er zur vollen Zufriedenheit seines Chefs, er führt dort ein zwölf Meter langes „Sprach-Rohr“ für die Kommunikation zwischen dem Lager und dem Chef-Büro ein, wodurch die Arbeit erleichtert und rationalisiert wird. Er nennt das Ding schon Telephone, das ein Engländer um 1750 so bezeichnet hat. Es hatte natürlich noch nichts mit elektrischer Übertragung zu tun. Hier endet aber seine Erfinder-Fantasie noch lange nicht: das nächste sind „Rollschuhe“ und ein verbessertes „Velociped“ des Freiherrn von Drais. Die Leute staunten, wenn er mit dem von Handhebeln bewegten „Fahrrad“ vorbeiraste.

Ein Labor mit dem Geld seiner Frau. Er heiratet und kauft von der Mitgift seiner Frau und aus der großmütterlichen Erbschaft ein kleines Haus mit Scheune, mit der er sich einen langgehegten Wunsch erfüllt: eine Werkstatt mit Versuchslabor und allen Werkzeugen und Geräten. Er lehrte nun an der Garnierschen Schule, neben den Naturwissenschaften auch Französisch, ohne im Lehrberuf ausgebildet worden zu sein! Und wie er lehrte! Keine auswendig gelernten Formeln, die Jungen mussten hinter die Dinge kommen, mussten verstehen, was sich z.B. hinter dem einfachen physikalischen Gesetz Arbeit = Kraft mal Weg verbirgt. Er experimentierte vor der Klasse mit Wasser und Waage, mit Holz und Eisen, mit Kohlen und Steinen, mit Batterien und Drähten… Sein Unterrichtsgrundsatz lautete: keine Erkenntnis ohne Versuch, kein Lernen ohne Anschauung! Und die selbst erdachten und gebastelten Apparate erfüllten ihren Zweck viel besser als die teuren Geräte im Labor des Instituts. Alle Apparate machten vorher in seiner Scheune einen Probelauf, damit vor der Klasse nichts schief ging. Alles bedachte und überlegte er gründlich. Unüberlegtes Drauflosmurksen war ihm zutiefst zuwider. In so einem Unterricht waren die Schüler mit Feuereifer dabei.

Dann ging es darum, den Schülern Schallwellen anschaulich zu machen. Sie ließen Steine in den Weiher fallen und sahen, wie kreisrunde Wellen sich nach allen Seiten wie Ringe ausbreiten und wie sich die Wellen zweier Steine überlagern. Ungläubig waren sie, als er behauptete, dass auch der Schall sich in Wellen ausbreite. Er gab einem Schüler ein Blatt Papier in die Hände und ließ ihn gegen das Blatt sprechen. Wir sehen keine Wellen! Sehen kann man sie freilich nicht, aber fühlen! Wenn du den Finger ganz leicht gegen das Papier legst, kannst du die feinen Schwingungen spüren! Und so war es. Alle waren jetzt von Schallwellen überzeugt. Jetzt war Philipp wieder bei seinem ureigenen Thema: dem Fernhören.

Bild 3. Links das "Ohr", rechts das "Gehirn", dazwischen die "Nerven" mit der Batterie.

 

Der erste Satz im Telefon: Ein Pferd frisst keinen Gurkensalat. Er ging vom Natürlichsten aus, und das war nach seiner Meinung das menschliche Ohr. Er schnitzte sich zuerst eine hölzerne Nachbildung, in die Ausgangsöffnung spannte er eine Fischblase als Membrane. Dahinter brachte er eine Nachbildung des Gehörknöchelchens, den Hammer an, dessen Stiel die Blase berührte und dessen Kopf eine Stahlfeder berührte. Sprach er nun in das Ohr hinein, bewegten die Schallwellen das „Trommelfell“, der Hammerstiel machte die Bewegung mit, während der Hammerkopf an die Stahlfeder schlug oder sich von ihr entfernte. Die Feder war in einen Stromkreis eingebunden, der abwechselnd geschlossen und unterbrochen wurde. Er hatte das Ohr nachgebildet, das den Schall weitergibt. Jetzt fehlte noch das Hirn, das die Töne erfasst. Er nahm eine Stricknadel, umwickelte sie mit isoliertem Draht, setzte sie auf eine Zigarrenkiste, die als Resonanzboden dienen sollte. „Ohr und Gehirn“ mussten nur noch mit den „Nerven“, den Drähten verbunden und eine Batterie zwischengeschaltet werden. Jetzt musste es gelingen, alles hatte er bedacht und sorgfältig zusammen gefügt. Eine eigenartige Erregung hatte ihn gepackt.

Bild 4. Erster Versuch: Ein Pferd frisst keinen Gurkensalat.

 

Einer seiner Schüler kletterte mit dem Resonanzkästchen auf einen Pflaumenbaum, Philipp saß in der Werkstatt, wo das hölzerne Ohr auf dem Tisch stand. Wollen wir einen Ausflug machen? rief er in die Muschel. Na klar, am liebsten schon morgen! kam vom 50 Meter entfernten Baum laut die Antwort zurück. Da rannte der 27-jährige Lehrer wie ein Kind aus der Werkstatt. Ich hab´s – es ist gelungen! schrie er und lief ins Haus zu seiner Frau. Ich hab ihn erfunden, den sprechenden Draht! Seine Schüler kamen in Scharen, um sich das Wunderding anzusehen und gratulierten ihm herzlich. Am nächsten Morgen kam der Klavierstimmer Balmer, Reis erklärte ihm den Apparat, Balmer hatte äußerste Zweifel und meinte, die Jungen würden die Worte gar nicht verstehen, sondern würden sich den Sinn zusammen reimen. Da gab ihm Reis den Auftrag, einen möglichst ungewöhnlichen Satz in die Muschel zu sprechen, so dass der Empfänger nie und nimmer den Sinn erraten könne. Achtung, ihr Burschen auf dem Baum! Jetzt sollte es sich erweisen, dass alles ein großer Schwindel war, und was für einer! Ein Pferd frisst keinen Gurkensalat, sprach er siegesgewiss in die Muschel. Nein, kam es laut vom Baum zurück, er würde ihm im Magen liegen bleiben! Donnerwetter, es war also doch wahr, was man ihm da erzählt hatte! Er schüttelte dem Schulmeister kräftig die Hand, Herr Reis, Sie werden ein steinreicher Mann, Sie haben das achte Weltwunder erfunden! Er eilte in den Ort zurück, wo er die große Erfindung des Lehrers Philipp Reis bekannt machte.

Professor Garnier: Sie müssen Ihre Erfindung bekannt geben, am besten in den Physikalischen Jahrbüchern und dann ein Vortrag vor dem Physikalischen Verein in Frankfurt, möglichst rasch! Aber Philipp winkte ab, es sei noch viel zu verbessern, das Ohr muss kompakter werden, der Ton muss verstärkt werden. So muss er ein Jahr aufwenden mit neuen Versuchen. Das Ohr wurde ein hohler Holzwürfel mit einem schrägen Sprechtrichter, oben überspannte eine feine Membran ein rundes Loch, von dort leitete eine Platin-Platte über einen winzigen Stift die Stromstöße weiter. Mit einer Einstellschraube konnte die Apparatur auf höchste Empfindlichkeit gebracht werden. Die Empfangsstation gab jetzt die Worte viel deutlicher und lauter wieder.

Bild 5. Das verbesserte "Ohr" von 1861 - ein Resonanz-Kasten.

 

Die Physikalische Gesellschaft - ein schlimmer Eklat. Am 26. Oktober 1861 sollte nun Philipp Reis´ Vortrag vor der Physikalischen Gesellschaft stattfinden. Er hatte auch eine Abhandlung für die renommierten „Annalen der Physik“ geschrieben. Der abendliche Saal war voll besetzt. Er erläuterte auf klare und ruhige Weise seine Überlegungen, seine Theorie und seine Versuche und berichtete dann von seinen bescheidenen Erfolgen. Er bat dann das Publikum um etwas Geduld, sein Laborant gab ein Lichtsignal hinaus in die Dunkelheit, dann hörte man plötzlich eine Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien, ein Lied und dann ein Gedicht. Reis erklärte, die Worte werden von einem Künstler in den soeben beschriebenen Holzwürfel gesprochen, der 100 Meter von hier im Bürgerhospital aufgestellt ist. Zum Schluss ein hessisches Heimatlied, viele erhoben sich und spendeten lauten Beifall. Nur einer nicht: Professor Johann Poggendorff, Physikpabst und Herausgeber der „Annalen der Physik“. Er schrie mit sich überschlagender Stimme: Zauberkunststücke, alberne Kindereien, wir sind hier nicht im Taschenspielerklub! Ihr Spielzeug mit diesem Gequake und Geschnarre wird nie und nimmer ein Fernverständigungsmittel, Sprachübertragung mit Hilfe von Elektrizität ist unsinnig! Er verließ wütend den Saal und schmiss Herrn Reis noch voller Verachtung das eingereichte Manuskript auf das Pult. Einer seiner Gefolgsleute schrie noch: was Herr Poggendorff anerkennt, bleibt anerkannt, was er ablehnt, ist erledigt für alle Zeiten! Der Eklat war da! Reis´ Hände zitterten, und aller Glanz war aus seinen Augen gewichen. Er hatte eine der größten Erfindungen des Jahrhunderts gemacht, musste sich demütigen lassen und als geschlagener, beleidigter Sieger das Schlachtfeld verlassen.

Bilder 6 und 7. Die Meisterleistung des Philipp Reis. Ein Exemplar von 1863. Mit diesem Telefon gelang es Reis, einzelne Töne wiederzugeben. Die Sprache war nur undeutlich zu verstehen. Über den Trichter erreichen die Töne eine Membran und versetzen sie in Schwingungen. Dadurch wird ein Stromkreis geöffnet oder geschlossen. Im Empfänger bringen die ankommenden Signale die Stricknadel zum Schwingen. Der Holzkasten dient als Resonator.

Was waren die Ursachen für eines der schlimmsten Fehlurteile der Technikgeschichte zum Nachteil Deutschlands? Überheblichkeit der fest gefügten Akademiker-Clique gegenüber dem Selfmademan ohne akademische Titel? Neid und Missgunst gegenüber einem Quereinsteiger? Hatte man keine Zukunftsträume mehr und setzte lieber auf das Althergebrachte? Wollte man verbissen seine Erbhöfe verteidigen? Waren die auserwählten Hochschulprofessoren geistig nicht mehr beweglich? Wusste man nicht, dass jede brandneue Erfindung  Zeit und Mühe braucht, um vervollkommnet zu werden? Oder waren es ganz andere Gründe, wie z.B. der Hochmut des Hanseaten Poggendorf über den hessischen Provinzler Reis? Deutschland bestand ja 1861 noch nicht, es entstand erst zehn Jahre später aus vielen Königreichen und Herzogtümern. Vielleicht spielte von allem etwas mit. Reis sollte nicht der einzige bleiben, dessen Erfindung gering geschätzt und verkannt wurde, mit erheblichen Folgen für uns alle; wer wurde nicht alles gering geachtet und verspottet, Otto mit dem Motor, Benz mit dem Auto, Lilienthal mit dem Flugzeug, Hülsmeyer mit dem Radar, Zuse mit dem Computer? Der Mensch ist schon ein merkwürdiges gespaltenes Wesen: da sind die einen, die mit glasklarem Blick der Zukunft zugewandt sind und forschen, denken, erkennen wollen, und da sind die anderen, die das Denken aufgeben und alles beim Alten belassen wollen.

Die Frankfurter Presse schrieb positiv: Als wir die von Ferne übertragenen Töne deutlich wahrnahmen, waren wir freudig überrascht. Durch weitere Verbesserungen wird diese Entdeckung der Gipfel unseres erfindungsreichen Jahrhunderts. Und in einer anderen Zeitung: Bald wird man mit einem 100 Meilen entfernten Freund Gespräche führen. Waren die Journalisten etwa schlauer als der oberste deutsche Physiker?

Philipp Reis gibt nicht auf. Nach dem Debakel stürzt sich Philipp Reis wieder voller Begeisterung in seine Erzieherarbeit. Er bastelte mit seinen Schülern ein Fernrohr und entdeckte angesichts der Unendlichkeit des Weltalls seine eigene Unbedeutenheit und die Winzigkeit seiner Pläne und Sorgen. Seine Telefonapparate hatte er in eine Ecke der Werkstatt geworfen und wollte nichts mehr davon wissen – bis sein alter Lehrer und Freund Garnier ihm ins Gewissen rief, dass er eine bahnbrechende Erfindung gemacht hat, die es zu vervollständigen gilt. Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel, vergraben Sie Ihre Schätze nicht, verwandeln Sie sie in gute Münze! Und Philipp machte tatsächlich weiter; verbesserte Komponenten machten die gesprochenen Worte viel deutlicher.

Bild 8. Platzhirsch Poggendorff: Er sprach das Todesurteil für Philipp Reis.

 

Ungeachtet der Ablehnung durch die Physiker machte die große Erfindung von sich reden, in der deutschen Presse und im Ausland. 1864 wird Reis eingeladen, vor der Naturforscher-Versammlung in Gießen über sein Gerät zu sprechen. Seine Selbstsicherheit war eindrucksvoll, und die Zuhörer waren begeistert. Da sah er im Publikum plötzlich ein Gesicht wie aus einer Welt, die er vergessen wollte: Professor Poggendorff! Der sucht ihn nach dem Vortrag auf und bietet ihm an, seinen Artikel in den Annalen zu veröffentlichen, da er nun keinen schlechten Eindruck von dem Apparat mehr habe. Jetzt lehnte Reis ab. Ich danke, schrie Philipp Reis,  jetzt ist es zu spät, mein Apparat wird auch ohne Veröffentlichung in den Annalen bekannt werden! Wütend verließ der Professor den Raum. Reis war befreit. Es stand jetzt 1:1.

Rastlos ging Reis an die Weiterentwicklung seines Apparats. Er wusste, dass noch ein grundlegender Fehler darin steckte. Er arbeitete wie ein Besessener daran, erkannte aber nicht, dass er den Stromkreis nicht im Rhythmus der Sprachfrequenz unterbrechen, sondern dies mit einer Veränderung eines Widerstandes im Mikrofon realisieren musste. Er suchte diesen Weg und geriet in die Irre. Er schlief sogar in der Werkstatt. War es das Gift der grünen Dämpfe aus einer Batterie, die er einatmete, ohne zu wissen, dass er damit seiner angegriffenen Gesundheit Schaden zufügte? Der Arzt stellte eine Vergiftung der Luftwege fest, konnte aber nichts dagegen tun. Philipp baute zehn Apparate und verwarf alles, was nicht seinen Erwartungen entsprach. Er änderte den Magneten, die Stellschrauben, den Platinkontakt. Der Empfang blieb leise wie vorher. Enttäuschungen über Enttäuschungen, und die Anschaffungen verschlangen all sein Geld. Seine Familie lebte unter der Armutsgrenze, und um seine Gesundheit wurde es immer böser bestellt. Er ließ sich trotzdem nicht entmutigen, schrieb Artikel, hielt Vorträge gegen Honorar, ließ kleine handliche Telefone vom Mechaniker Albert in Frankfurt anfertigen und verkaufte sie für zehn Taler das Stück. Einige Exemplare seiner Apparate kamen auch nach Russland, Großbritannien, Irland und in die USA. Ab 1868 wurde dort mit der deutschen Erfindung gearbeitet.

Bild 9 u. 10. Giftige Dämpfe aus einer Batterie - er wurde nur 40.

Eine Kur in Bad Soden, die ihm ein Freund bezahlte, brachte kaum Besserung seiner Gesundheit. 1874, im Alter von nur 40 Jahren, hatte er den Kampf gegen sein Hals- und Lungenleiden verloren. Er schied im Frieden mit sich und der Welt. Er ging in der Gewissheit, in die Zukunft gewirkt zu haben: in seinem Lehrerberuf und mit seiner großen Entdeckung, dem sprechenden Draht.

Der Siegeszug seines Telefons. Was Poggendorff ablehnt, ist erledigt für alle Zeiten? Es erfüllte sich vielmehr, was Reis voraus geahnt hatte: der Siegeszug seines Telephons war durch keinen selbstherrlichen Professoren-Spruch aufzuhalten. Es ging jetzt Schlag auf Schlag:

1876  Graham Bell meldet beim US-Patentamt ein weiter entwickeltes Reis-Telefon an; er ersetzte die mechanische Stromunterbrechung durch galvanische Beeinflussung der Membran. Reis war an dieser Lösung schon mal ganz nahe dran.

1877  Gründung der Bell-Telephone-Company, Verkauf der ersten Telefone, deutscher Generalpostmeister Stephan kauft zwei Apparate, Einrichtung der ersten Fernsprechverbindung vom Generalpostamt zum Telegraphenamt Berlin, Werner Siemens führt verbesserte Bell-Telefone vor, Stephan berichtet dem Reichskanzler Bismarck, Umfunktionierung von Telegraphen- zu Telefonleitungen.

1878   Ab diesem Jahr folgen weitere Telefonverbindungen: Berlin/Schöneberg (2 km), Berlin/Potsdam (26 km), Berlin/Brandenburg (61 km).

1880  458 Fernsprechanschlüsse in Berlin.

Bild 11-14. Zeitlebens verkannt und gedemütigt - lange nach seinem Tod geehrt.

Bild 15. Reis´ erster Sprechapparat 1861.

 

Verkannt, gedemütigt, beleidigt, ja sogar mitverantwortlich für seinen frühen Tod… so sind die Deutschen mit einem ihrer größten Söhne umgegangen. Wie lautet doch das Jesus-Wort? Der Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland. Die Konsequenz folgte auf dem Fuße: man war nun auf amerikanische Lizenzen des Bell-Telephons angewiesen, das weiter nichts war als eine Weiterentwicklung des Reis-Apparats durch die cleveren Amerikaner. Man hätte es auch anders haben können. Zu Ehrungen für den bescheidenen, freundlichen, fleißigen Hessen konnte sich Deutschland erst lange nach seinem Tode aufraffen: 1885 Denkmal in Gelnhausen, 1915 Denkmal in Frankfurt, 1952, 1961, 1984 Briefmarken der Deutschen Bundespost, 1989 und 1990 der DDR.

Bezeichnenderweise war es ein Engländer, der 1883 eine Reis-Biographie schrieb: Philipp Reis, Inventor of the Telephone, by Professor Sylvanus Thompson, University of Bristol. Darin steht: Die Ehren, die ihm die Welt während seines Lebens versagte, werden ihm jetzt zuteil; denn seine große Seele lebt noch unter uns und bewegt die Welt.

Bild 16. 140 Jahre Evolution des Telefons: Zuerst noch Mikrofon und Hörer getrennt, eine beim Teilnehmer aufgestellte Batterie versorgt das Mikro mit Strom, mit der Kurbel wurde das "Fräulein vom Amt" gerufen. Wandapparate, würfelförmige und runde Tischapparate, das schwarze Standardtelefon der Post in den 1950ern, das graue von 1963, das orangene Posttelefon der 1970er  und das "Schnurlose" der Telekom von 2005. Das Tastentelefon hat sich gegenüber der Drehscheibe durchgesetzt.

Bild 17. Die berühmte Fernsprechzelle mit dem bekannten Logo "Faust hält Telefonhörer", innen gab es einen Münzfernsprecher (rechts), einen Halter für das Fernsprechbuch, eine Aufschrift "Fasse dich kurz!" und manchmal auch einen kleinen Hocker.

Bild 18. Reichspostamt Berlin, Leipziger Straße, Briefmarke von 1900, damals zuständig für den Telefonverkehr. Hier saß das Fräulein vom Amt, das die Gespräche per Hand vermittelte durch Einstöpseln in einem "Klappenschrank". Heute befindet sich in dem wiederaufgebauten Gebäude das sehenswerte Museum für Kommunikation.

 

 

 

 

 

 

 

Bild 19. Philipp Reis wird auf einer Ansichtskarte von Friedrichsdorf/Taunus gewürdigt - im Stil um 1900: Engel leiten die Sprache im Draht weiter.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild 20. Die neue Zeit hat begonnen, die Dame des Hauses telefoniert um 1912. Gemälde von Max Schüler.

 

Bildnachweis.

Bild 1, 11-13: public domain. Bild 2, 3, 4: Aus Franz Bauer: "Der sprechende Draht". Ensslin & Laiblin, Reutlingen, 1949. Bild 5: eigene Zeichnung. Bild 6, 7: Eigene Fotos am 1./2.8.2011 im Deutschen Museum München, Gestattungsvertrag für Bildaufnahmen vom 12.7.2011. Bild 8: Schutzfrist abgelaufen. Bild 9: gem. portrait.kaar.at. Bild 10: DDR Münze 1974. Bild 14: GNU Lizenz f. freie Dokumentation, Foto von Sven Teschke 2005. Bild 15: Gemeinfrei, Schutzfrist abgelaufen, aus "Gartenlaube" 1863. Bild 16 und 17: Eigene Fotos 10.8.2012 im Museum für Kommunikation Berlin, Zustimmung für Veröffentlichung in heureka-stories.de erteilt. Fotos Telefon 1924 u. 1937: Eigene Fotos am 1./2.8.2011 im Deutschen Museum München, Gestattungsvertrag für Bildaufnahmen vom 12.7.2011. Foto Telefon 1970: Wikipedia, Urheber Bran, public domain. Foto Telefon 2005: Wikipedia,  Urheber VisualBeo CC-BY-SA 3.0. Foto Telefonzelle: Wikipedia, Urheber Stefan Kühn, CC-BY-SA 3.0. Bild 18: Public domain. Bild 19: Schutz abgelaufen. Bild 20: Wikipedia, Museum Post & Telekommunikation, Schutz abgelaufen.

Das Telefon - Kurzinfo

Philipp Reis (*Gelnhausen 1834, †Friedrichsdorf 1874) stellt 1861 vor der Physikalischen Gesellschaft in Frankfurt am Main seinen neuen Sprechapparat vor, später Telefon genannt. Ein hohler Holzwürfel mit einem schrägen Sprechtrichter, oben überspannte eine feine Membran ein rundes Loch, von dort leitete eine Platin-Platte über einen winzigen Stift die von den Schallwellen erzeugten Stromstöße weiter. Man hörte plötzlich im Saal die Stimme eines Sprechers, der in 100 m Entfernung in den Apparat sprach. Trotz des Beifalls taten die großen Physiker die Jahrhundert-Erfindung eines Nichtakademikers als Spielerei ab.

Rastlos ging Reis an die Weiterentwicklung seines Apparats. Er wusste, dass noch ein grundlegender Fehler darin steckte. Er ließ kleine handliche Telefone vom Mechaniker Albert in Frankfurt anfertigen und verkaufte sie für zehn Taler das Stück. Einige Exemplare kamen auch  in die USA. Ab 1868 wurde dort mit der deutschen Erfindung gearbeitet. 1876 meldete Graham Bell beim US-Patentamt ein weiter entwickeltes Reis-Telefon an; er ersetzte die mechanische Stromunterbrechung durch galvanische Beeinflussung der Membran. Reis war an dieser Lösung schon mal ganz nahe dran.

1880 gab es schon 458 Fernsprechanschlüsse in Berlin, Modell Graham Bell. Zu Ehrungen für den bescheidenen, fleißigen Hessen konnte sich Deutschland erst lange nach seinem Tode aufraffen. Im Alter von 40 Jahren war er an einer Krankheit gestorben, die er sich durch Einatmung giftiger Dämpfe aus einer Batterie zugezogen hatte. 1883 schrieb der Engländer Sylvanus Thompson eine Reis-Biographie: Philipp Reis, Inventor of the Telephone. Die Ehren, die ihm die Welt versagte, werden ihm jetzt zuteil; denn seine große Seele lebt noch unter uns und bewegt die Welt.

 

Das Telefon - die ganze Geschichte